Bilderbuch-Forschung: Baby liest mit!

Internationale Buchforscher zeigen, wie wichtig das "Lesen" von Bilderbüchern für Babys ist: Schon beim Betrachten der Bilder entwickeln die Kinder wichtige Denkfähigkeiten.

Tut nur so, als würde es mitlesen? Macht nichts! Bild: dpa

Ein aufgeschlagenes Buch, davor Abbey, knapp drei Jahre. Eilig gleitet ihr Zeigefinger die großen Buchstaben entlang: "Wenn Du aus dem Fenster schaust, was siehst Du?", liest sie. Die Erwachsenen schmunzeln, haben durchschaut, das Mädchen kennt den Text auswendig, kann gar nicht lesen. "Doch," behauptet Janet Evans, Erziehungswissenschaftlerin der Liverpool Hope University, "Abbey liest!" Wir täten gut daran, das anzuerkennen. Denn ein Kleinkind, das glaubt, dass es liest, obwohl es einen Text aus dem Gedächtnis hersagt, hat das Lesen in sein Selbstbild integriert - eine wichtige Weichenstellung auf dem Weg zum "echten" Leser.

Evans sprach bei "Childrens Books from 0 to 3: Where Literacy Begins", einer internationalen Tagung im Bilderbuchmuseum in Troisdorf. Die Literaturwissenschaftlerin Bettina Kümmerling-Meibauer hatte geladen, um einer Buchform Aufmerksamkeit zu widmen, die zwar in großer Auflagenzahl verkauft wird, von der Forschung aber unterschätzt wird. Meibauer sammelt seit vielen Jahren Babybilderbücher aus aller Welt. Dabei stellte sie fest, dass diese Papp-, Zeige- oder Benennbilderbücher eine lange Tradition in der westlichen Kultur haben.

In Deutschland gibt es sie seit etwa 125 Jahren. Diese Buchform macht meist einen alltäglichen Gegenstand pro Seite zum Thema, manchmal sind auch mehrere Objekte mit entsprechender Bezeichnung oder ganz ohne jeden Text abgebildet. Bilderbücher sind für den frühkindlichen Spracherwerb bedeutend - und eine kulturgeschichtliche Fundgrube.

Davon zeugt die derzeit im Bilderbuchmuseum gezeigte Ausstellung "Literatur im Laufstall. Bilderbücher für die ganz Kleinen," die die Leiterin des Museums Maria Linsmann mit Bettina Kümmerling kuratiert hat. Neben deren Privatsammlung und Leihgaben von Bibliotheken sind Originale aus dem Depot des Bilderbuchmuseums zu sehen. Die Schau verdeutlicht, wie das Bild des Kleinkindes und die jeweilige pädagogische Haltung einer Zeit in den ästhetischen Formen der Alltagsgegenstände sichtbar werden. Neben einer Kulturgeschichte des Elementarbilderbuchs überrascht die Ausstellung mit Pappbilderbüchern von namhaften Künstlern, wie Andy Warhol, Keith Haring, Edward Steinchen oder Tana Hoban.

Doch wozu taugen diese, einem Erwachsenen recht stupide erscheinenden Bücher eigentlich? Sie tragen zum Spracherwerb und zur Frühlesekompetenz oder besser zur early literacy bei. Der englische Begriff Literacy, für den es im Deutschen keine adäquate Übersetzung gibt, umfasst den Erwerb der Lese- Schreib- und Sprachkompetenz, die Fähigkeit zu erzählen, den Sinn eines Text zu begreifen und vieles mehr. Die Leseforscher schlagen, um der Komplexität dieser Buchform gerecht zu werden, die Bezeichnung "Frühe-Konzepte-Bilderbücher" vor. Es sind nicht nur die Worte dieser elementaren Bücher, die starken Einfluss auf die gesamte kognitive Entwicklung des Kindes haben. Kleinkinder lernen, dass der abgebildete Gegenstand einen Stellvertreter für den Gegenstand in der Realität darstellt - ein Bild, das diesem ähnlich und doch nicht identisch mit ihm ist. Diese Transferleistung entspricht dem späteren Leseprozess.

Ein Kind speichert sämtliches Wissen über zum Beispiel einen Apfel: dass er eine Frucht ist, rund und grün oder gelb oder rot und auf Bäumen wächst und so weiter - und lernt dadurch das "Konzept" Apfel kennen, so nennen es jedenfalls die Linguisten. Benennbücher helfen, diese Konzepte im Kopf des Kindes zu entwickeln. Dazu bildet sich die Fähigkeit aus, mentale Bilder zu erzeugen. Das Kind erlangt die Fähigkeit, beim Hören des Wortes Apfel das innere Bild eines Apfels zu "sehen" - auch das eine wichtige Grundvoraussetzung für späteres Leseverständnis.

Erwachsene unterschätzen Babys und Kleinkinder tendenziell oder erzeugen durch elterliche Überambitioniertheit entwicklungshemmenden Druck. "Eltern müssen ihre Erwartungshaltung ablegen, sie sind dafür da, eine schöne Vorleseatmosphäre zu schaffen, Babys lernen von selbst," sagt Tomoko Masaki aus Osaka, die seit sieben Jahren Babylesekurse leitet.

Babys brauchen Bücher, damit sie den Umgang und die Regeln für ihre Handhabung verinnerlichen und sie sie als zu ihnen gehörend erleben. Denn nicht nur den Geist, auch den Körper schulen Babybilderbücher, die es in unterschiedlichen Materialien aus Pappe, Holz, Plastik oder Stoff gibt. Bilderbücher sind die einzige Literaturform, die von Erwachsenen und Kindern gemeinsam gelesen werden - das wirkt stark auf die emotionale Entwicklung von Kindern.

Die englischen, amerikanischen und asiatischen Kollegen legen den Bucherstkontakt mit den Zeitpunkt der Geburt an. Sobald das Kind das Licht der Welt erblickt, ist es ein potenzieller Leser!, meinte Mirik Snir, die Grande Dame der israelischen Kinderliteratur. Deutsche Wissenschaftler setzen den Lesebeginn mit etwa neun Monaten an.

Majo de Saedeleer leitete die vor zwei Jahren in Flandern eingeführte Buchstartinitiative, die neben kostenlosen Bücherpaketen auch eine Beratung durch ausgebildete Buchstarthelfer beinhaltet. Den Erfolg der Initiative erkenne man unter anderem daran, dass die Bibliotheksanmeldungen und der Umsatz der Buchhandlungen im Bereich der Babybilderbücher deutlich gestiegen sei.Während sich für linguistische Forschungsprojekte fast ausschließlich Mittelklassefamilien melden, erreichte man durch Vergabe von Erstlesepaketen beim Kinderarzt auch bildungsferne Familien.

Gerade diese Eltern scheinen das Buch für ihre Kinder als neues Medium zu entdecken. "Ich war nicht gut in der Schule, aber mein Baby soll es besser haben," las Frau de Saedeleer aus dem Brief einer jungen Mutter vor, "deshalb will ich bei Bookbabies mitmachen."

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