30 Jahre AKW-Unfall Harrisburg: Die Beinah-Katastrophe

Am 28. März 1979 kommt es im US-AKW bei Harrisburg zu einer Kernschmelze. Der Super-GAU wird nur knapp abgewendet. Erst 30 Jahre später beginnt die Diskussion darüber.

Polizisten sperren den Eingang zum AKW "Three Mile Island" ab. Bild: ap

Ende der Siebzigerjahre spaltet Atomkraft die Welt. Während Politiker und Konzerne wie ein Mantra wiederholen, dass die damals 460 in Betrieb oder im Bau befindlichen Kraftwerke sicher seien, wächst der internationale Widerstand: 200.000 Demonstranten ziehen durch Bilbao, in Frankreich stirbt ein Protestler durch eine Blendgranate der Polizei, in Deutschland geht es gegen Wyhl, Brockdorf, Kalkar.

Die Anti-Atom-Bewegung hatte dieselben Argumente wie heute: Die Endlagerung des Atommülls sei nicht gelöst und die Technik nicht so beherrschbar, dass ein Unfall auszuschließen sei. In der Nacht des 28. März 1979 werden diese Befürchtungen wahr.

Gegen 4 Uhr fallen im Druckwasserreaktor-Block 2 des Kraftwerks "Three Mile Island" (TMI) in der Nähe von Harrisburg, USA, zwei Pumpen aus, die zum sekundären Kühlkreislauf des Kraftwerks gehören. Das Sicherheitssystem reagiert zwar unverzüglich: Es schaltet die Anlage ab, senkt die Regelstäbe in den Kern und beendet die Kettenreaktion. Dafür beginnt jetzt eine Kette menschlicher und technischer Fehler.

Denn auch nach dem Stopp produziert der Block viele Millionen Watt Nachzerfallswärme. Der Reaktor wird immer heißer, und schnell steigt der Druck in der Anlage. Mehr als 100 Alarme treffen in der Schaltzentrale ein, das überforderte Personal verliert den Überblick. Automatisch öffnet sich nun ein Sicherheitsventil. Sobald wieder Normaldruck erreicht ist, soll es sich automatisch wieder schließen, doch das geschieht nicht - und dieser Fehler wird von niemandem bemerkt, da die Kontrollleuchte in der Zentrale ein geschlossenes Ventil anzeigt.

Mehr als zwei Stunden lang geht nun jede Minute rund eine Tonne Kühlmittel verloren. Es kommt noch schlimmer: Eineinhalb Stunden nach dem Unglück beginnt es im Block 2 zu vibrieren. Im Kühlkreislauf haben sich Dampfblasen gebildet, die das gesamte System stören. Die Kühlpumpen saugen kaum noch Wasser an, sondern meist nur Dampf. Um 5.41 Uhr schalten die TMI-Techniker die Pumpen ab, gehen aber davon aus, dass der Wasserkreislauf an sich intakt ist. Eine Fehleinschätzung. Denn nun verdampft auch noch das restliche Wasser - und nach zweieinhalb Stunden ist die Temperatur so hoch, dass die Brennstäbe sich zu zersetzen beginnen.

Schichtwechsel, 6 Uhr: Das gesamte Kühlsystem des Reaktors ist ausgefallen, die Kernschmelze ist in vollem Gange. Endlich entdeckt ein Techniker das offene Sicherheitsventil und schließt das Leck. Gerne würden die Ingenieure wissen, wie hoch die Temperatur im Kern ist. Es gibt Messinstrumente, aber der Computer kann deren Ergebnisse nicht verarbeiten - sie sind bereits höher, als es sich die Programmierer haben vorstellen können.

Um 7.24 Uhr wird erhöhte Gammastrahlung gemessen: Das TMI löst nun die höchste Alarmstufe aus. Radioaktives Gas entweicht. 10 Uhr: Die Kraftwerksbetreiber betonen, dass keine Radioaktivität freigesetzt worden sei, erwähnen den Strahlenalarm aber mit keinem Wort. Um 16.15 Uhr machen Techniker eine schockierende Entdeckung: Das Kühlwasser des Kraftwerks enthält bereits zehn Prozent der gesamten Radioaktivität des Reaktorkerns. Die Lage ist ernst.

Doch erst am nächsten Tag informiert das TMI um 8.34 Uhr das Katastrophenzentrum darüber, dass die Bevölkerung in Gefahr sein könnte. Um 10 Uhr ertönt ein Sirenenalarm - und Panik bricht aus. Bürger berichten von weißen Flocken, die wie Schnee vom Himmel rieseln. Der Gouverneur verfügt, dass schwangere Frauen und Kinder das Gebiet in einem Umkreis von acht Kilometern verlassen müssen. Hunderttausende fliehen.

Den Technikern gelingt es endlich, den Wasserdampf aus dem aufgeheizten Reaktor zu entfernen, indem sie erneut radioaktives Gas entweichen lassen. Verseuchtes Wasser läuft in den Susquehanna-Fluss. Der Kühlkreislauf arbeitet wieder, die Temperatur sinkt.

Am 1. April kommt Präsident Jimmy Carter aus dem 200 Kilometer entfernten Washington und erklärt "Three Mile Island" als stabil. Die schlimmste Katastrophe, der Super-GAU, ist zwar abgewendet - aber der Unfall, von dem die Atomkraftgegner immer gewarnt haben, ist bittere Realität geworden. Für die vielen, die es nicht schon immer gewusst haben, ist "Harrisburg" ein Schock. Für Bürger und Politiker, für Anwohner und Experten.

Harrisburg ist zwar nicht der erste Unfall in einem kommerziellen Kernkraftwerk, doch wer erinnert sich 1979 noch an die Tragödie im britischen Sellafield? Das war 1957 - und Harrisburg ist jetzt, und noch dazu war Block 2 erst drei Monate in Betrieb. In der ganzen Welt erfährt der Widerstand gegen Kraftwerke und Endlager verstärkten Zuspruch. Niemand kann nun mehr guten Gewissens behaupten, Atomenergie sei sicher.

Die New York Times schreibt damals vom "Schmelzen der Glaubwürdigkeit", Deutschlands Innenminister Gerhart Baum fordert, Kernkraft müsse "kritisch, umfassend und konsequent" überdacht werden. Dabei ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal der ganze Schaden bekannt.

Erst 1982 liefert eine Videokamera Bilder vom Kern: Er ist zu 30 Prozent geschmolzen. Die Entseuchung von "Three Mile Island" wird zwölf Jahre dauern. Wie viel Radioaktivität freigesetzt wurde, ist bis heute umstritten. Die Messdaten der ersten beiden Tage sollen verloren gegangen sein.

Nach Auswertung verschiedener Studien spricht die amerikanische Atomregulierungsbehörde von "zu vernachlässigenden" Auswirkungen für Umwelt und Bevölkerung, da die meiste Radioaktivität in der Anlage verblieben sei. Wissenschaftler der Universität Columbia hingegen diagnostizierten bei den Anwohnern des TMI eine bis zu vervierfachte Rate an Lungenkrebs und Leukämie.

Die energiepolitischen Auswirkungen des Störfalls von Harrisburg in den USA sind dafür umso eindeutiger: Jahrzehntelang traut sich kaum ein Politiker mehr, Atomkraft direkt zu fördern. Aufträge für mehr als hundert Reaktoren werden storniert, nur eine neue Anlage geht bis heute ans Netz. Lediglich knapp 20 Prozent der gesamten Elektrizität stammen in den USA aus nuklearer Quelle. Was bedeutet, dass die derzeit laufenden 104 Anlagen größtenteils sehr alt sind - das älteste Kraftwerk ist seit 1969 in Betrieb. Neuen Aufschwung erhält die Nuklearenergie mit der Präsidentschaft von George W. Bush - und zwar aus demselben Grund, aus dem Atomkraft in den Siebzigerjahren en vogue war: die Abhängigkeit vom Öl und dessen Zulieferern.

2002 genehmigt der Kongress den 10 Milliarden Dollar teuren Bau eines zentralen Endlagers im Yucca Mountain, einem ehemaligen Testgelände für Atomwaffen, 160 Kilometer entfernt von Las Vegas. 2005 folgt der zweite Schritt: Der "Energy Policy Act" verheißt Subventionen für Firmen, die neue Reaktoren bauen wollen. Das ist ein mehr als willkommener Anreiz: Derzeit befinden sich mehr als 20 Anlagen in der Genehmigungsphase.

Dass der neue Präsident Barack Obama verstärkt auf Wind- und Solarenergie setzen will, hat er bereits im Wahlkampf deutlich gemacht. Vor einigen Wochen handelte er und strich die Gelder für das zentrale Endlager auf das nötigste zusammen: Die Yucca Berge seien nicht erdbebensicher. Das Energieministerium soll nun eine neue Strategie für den existierenden und anfallenden Müll ausarbeiten. Konkret sind das bislang 57.000 Tonnen verbrauchte Brennstäbe, 2.000 Tonnen kommen pro Jahr und Kraftwerk hinzu. Dieser hochgiftige Abfall wird nun erst einmal weiter in der Nähe der einzelnen Reaktoren gelagert werden - oftmals unter recht unsicheren Bedingungen.

Nach dem Aus des zentralen Lagers haben sich die Senatoren der betroffenen Bundesstaaten wieder auf ihre traditionelle Rolle als "NIMBYS" besonnen: Atomkraft ja, sagen sie, Endlager ja - aber "Not In My BackYard", nicht in meiner Nachbarschaft. Dabei wissen sie die Wähler auf ihrer Seite: Eine Studie der Beratungsfirma Accenture zeigt, dass zwar 81 Prozent der Amerikaner dem Neubau von Kraftwerken zugeneigt sind - aber nur knapp die Hälfte würden eine Anlage in einem Radius 40 Kilometer rund um ihre Wohnung akzeptieren. Und mag die Studie auch zu hoch greifen - andere Umfragen sprechen von 53 Prozent Zuspruch -, der Trend ist klar: Atomkraft kann in den USA wieder ohne GAU gedacht werden.

"Nuklearenergie ist ein essenzieller Teil unseres Energiemixes", sagt US-Energieminister Steven Chu. 30 Schweigejahre nach Harrisburg beginnt in den Vereinigten Staaten die Atomdiskussion bei null - mit denselben Argumenten, ohne dass es bis heute ein Endlager gäbe und in einer Zeit, in der China, Frankreich oder Finnland neue Anlagen bauen wollen.

Die US-Atomregulierungsbehörde wird sich von der politischen Debatte nicht abhalten lassen, ihr Lizenzierungsverfahren für die neu beantragten Reaktoren fortzuführen, eine erste Entscheidung wird frühestens Ende 2011 erwartet. Auch über die Zukunft von "Three Mile Island" wird derzeit beraten. Die Betreiber der Anlage haben kürzlich beantragt, die 2014 auslaufende Lizenz für Block 1 um zwanzig Jahre zu verlängern. Derzeit finden Bürgeranhörungen statt, am 1. April wird die Regulierungsbehörde mit Wissenschaftlern über die Sicherheit der Anlage beraten, ihre Entscheidung wird für November erwartet.

Zum 30. Jahrestag des Unglücks treffen sich die Bürger von Harrisburg vor den Toren des Reaktors zur Mahnwache.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.