Kolumne Das Schlagloch: Totalitarismus der Liebe

Noch immer gilt die DDR als "Unrechtsstaat". Zeit für ein Recht auf Ergänzung.

Wir diskutieren noch immer über die Unrechtsstaatshaftigkeit der DDR. Zwanzig Jahre nach ihrem Ende. Seltsam ist das schon. Verräterisch ist das schon. Noch immer schreit dieses Land auf, wenn jemand dem Satz „Die DDR war ein Unrechtsstaat“ etwas hinzufügen will. Soeben haben sich der Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns Erwin Sellering sowie der Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse solcher Hinzufügungen schuldig gemacht, was ihnen umgehend den Verdacht eintrug, Verharmloser des DDR-Unrechts gewesen zu sein.

Sellering hatte den bemerkenswerten Satz geäußert, die DDR sei „kein totaler Unrechtsstaat“ gewesen. Zu unterscheiden wäre demnach künftig zwischen „Unrechtsstaaten“ und „totalen Unrechtsstaaten“? Doch schon die Aussage „Die DDR war ein Unrechtsstaat“ ist höchst unpräzise, mehr Ideologem als Wahrheit. Nicht weil die DDR irgendwie doch ein Rechtsstaat gewesen wäre, weil sie etwa sogenannte soziale Rechte wie das Recht auf Arbeit ernst nahm. Nein, im Gegenteil: weil sie gar kein Rechtsstaat sein wollte. Eine Sache aber durch das Gegenteil von etwas zu beschreiben, was sie nie war und nie hat werden wollen – darauf wird zurückzukommen sein – ist tendenziös.

Richtig wäre vielmehr zu sagen: Die DDR war kein Rechtsstaat. Womit man ganz von selbst bei der Frage wäre: Was aber war sie dann? Also bei den Ergänzungen. Zu proklamieren ist ein neues Grundrecht: das Recht auf Ergänzungen! Was hat Sellering ergänzt? Unter anderem den nicht ganz dummen Satz: „Es war ja nicht so, dass ein idealer Staat auf einen verdammenswerten Unrechtsstaat stieß. Die alte Bundesrepublik hatte auch Schwächen, die DDR auch Stärken.“ Das klingt natürlich auf den ersten Blick sturznaiv. Als hätte man nur die guten Seiten beider Systeme zusammenfügen brauchen. Dabei sind Wiedervereinigungen nur ein Spezialfall von angewandter Physik: Das stärkere System saugt das schwächere auf, ohne nennenswerte Rückstände zu hinterlassen. Voraussichtlich wird man nächstes Jahr versuchen, das etwas schöner zu formulieren.

„Die alte Bundesrepublik hatte auch Schwächen, die DDR auch Stärken.“ Für die regierenden Kommunisten der DDR wäre – nicht weiter erstaunlich – eine solche Äußerung Indiz dafür gewesen, dass einer nichts, aber auch gar nichts begriffen hat. Erstaunlich ist vielmehr, dass führende Meinungsbildner dieses Landes genauso reagieren.

Der Exbürgerrechtler und Pfarrer Friedrich Schorlemmer hat das gerade noch viel furchtlos-direkter formuliert: „Der nun fast zwanzig Jahre währende Versuch einer Generaldeligitimierung der DDR nimmt selbst schon totalitäre Züge an.“ Die Frage ist nur: Macht die veröffentlichte Hauptmeinung dieses Landes das mit Absicht? Westliche Demokratien denken strukturell, gleichsam juridifizierend: Sie sehen die Dinge formal, von der Seite ihrer Verlaufsgesetzlichkeit. Die Öffentlichkeit moderner westlicher Demokratien ist eine große Kantianerin. Aber vielleicht muss man die meisten Dinge, will man sie wirklich verstehen, zugleich in ihrem Gewordensein begreifen. Versuchen wir es mit dem „Unrechtsstaat“ DDR.

Dass er nie ein Rechtsstaat sein wollte, lag natürlich an den Vordenkern des Sozialismus, Karl Marx, Heinrich Heine oder Karl Liebknecht. Es ließen sich noch mehr aufzählen. Was fällt uns da auf? Alles Juristen.

Die großen Verächter des Rechts waren Rechtsgelehrte. Sie einte die Erkenntnis, dass das Recht die grundlegende Ungerechtigkeit einer Gesellschaft nie beseitigen wird, schon weil es gleichursprünglich ist mit dem Besitz. Heinrich Heine: „Welch ein fürchterliches Buch ist doch das Corpus juris, die Bibel des Egoismus. Wie die Römer blieb mir immer verhaßt ihr Rechtskodex. Die Räuber wollten ihren Raub sicherstellen, und was sie mit dem Schwert erbeutet, suchten sie durch Gesetze zu schützen; deshalb war der Römer zu gleicher Zeit Soldat und Advokat.“ Und selbst große westliche Geschichtsbücher der Französischen Revolution ziehen das Fazit: „Die Revolution sollte diese Widersprüche (des Ancien Régime – K. D.) tatsächlich lösen. Indem sie jedoch allein den Besitzenden Rechte in der Nation einräumte und bald Vaterland und Eigentum gleichsetzte, ließ sie neue Widersprüche entstehen.“

Unter anderem das Skandalon des 19. Jahrhunderts schlechthin: Arbeit macht nicht reich. Arbeit macht elend. Die regierenden Kommunisten der DDR waren noch Kinder dieser Erfahrung. Unterschichtenkinder, wie man heute sagen würde. Sie kamen uns, den viel Späteren, nur noch lächerlich, nur noch dumm vor. Wir haben ihnen und ihrem Staat jede Anteilnahme verweigert und erst später über diese alten Männer an der Macht nachgedacht.

Eine moderne westliche Regierung will nicht geliebt werden, jene schon. Und wir bestraften sie mit Liebesentzug, nicht weil sie böse war, wie der geistige Kindskopf Ronald Reagan einst meinte, nein, weil sie so grotesk unzeitgemäß war. Ihr Totalitarismus, ihr diktatorisches Gebaren (auch wenn es noch immer schwer ist, Erich Honecker mit der Berufsbezeichnung Diktator zu denken) hatten aber diese Wurzel: Liebe. Liebe im Sinne von Solidarität. Im Sinne von: Arbeiter helfen Arbeitern. Ohne zu fragen. Einfach weil sie dasselbe Schicksal haben. So kamen unzählige Arbeiterfamilien durchs Leben, so kamen ihre Söhne durch das Leben im politischen Untergrund.

Liebe und Solidarität sind nicht rechtsförmig. Sie sind auch nicht ganz von dieser Welt, sie sind gleichsam ein Aufbegehren gegen das Realitätsprinzip. Aber genau in dem Augenblick, da man auf sie doch ein Reich dieser Welt gründen will, werden sie fatal. Ja, warum das nicht zugeben, die Regierenden der DDR wollten dem Volk dienen: Wohnen für alle, Brot für alle, Bildung für alle. Und wem das nicht reichte, war der nicht wirklich böse, war der nicht ein Feind? Die alten Männer der DDR hatten nicht genug Fantasie, es anders zu denken. Und sie hatten nicht genug Einsicht, um zu begreifen, dass das, was als Notgemeinschaft, als Schicksalsgemeinschaft funktioniert, niemals einen modernen, demokratischen Staat tragen kann. Denn genau in diesem Augenblick werden Rechtsbegriffe wichtig.

Vielleicht kann niemand den Rechtsstaat so sehr schätzen wie die Generation, die in der DDR jung war und die komplette Ohnmacht diesem Staat gegenüber erlebte. Das Gefühl, heute als Einzelner dem Staat gegenüber doch Rechte zu haben, hält noch nach zwanzig Jahren. Die Empörer vom Dienst scheinen so begriffsstutzig wie einst die alten Kommunisten. Unsere Sprache ist eine bemerkenswerte Erkenntnistheoretikerin, sonst hätte sie das Wort „begriffsstutzig“ nie hervorgebracht.

Begriffe sind Fenster, durch die wir auf die Welt schauen. Sie bestimmen den Ausschnitt der Wirklichkeit, den wir erblicken. Eine Gesellschaft, die nur formal denkt, die bloß Begriffe wie „Diktatur“ und „Unrechtsstaat“ zur Verfügung hat, egal welche Wirklichkeiten sie beschreiben will, erkennt immer nur sich selbst in allen Dingen. Darin liegt die Ignoranz des Westens.

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