die wahrheit: Reißende Tränenströme

Alte Gewerbe neu entdeckt. Die Rückkehr der trauernden Klageweiber.

Bild: seeliger/imago

Katinka Brandt, noch ganz aus der Puste, rappelt sich auf. Sie wischt die Tränen von ihren Wangen und den Dreck vom Kinn. Sie schüttelt ihre zerzausten Locken, aus denen kleine Erdklümpchen rieseln. Sie spuckt einen halben Regenwurm aus. Sie lächelt. Endlich Feierabend.

Katinka Brandt ist ein Klageweib. Sprich: Sie trauert an Gräbern frisch Verstorbener - leidenschaftlich, lauthals und gegen Geld, versteht sich. Ihr Standardprogramm: Haare zerraufen, mit den Armen wild durch die Luft fuchteln, auf dem Boden wälzen und natürlich Schreien und Wehklagen, was das Zeug hält. Alles andere kostet extra: Kleiderzerreißen, Dreckfressen, mit den Fingernägeln das Gesicht zerkratzen, Haare büschelweise ausreißen, an den Sarg ketten oder die Marterwerkzeuge Christi anwenden. Dornenkrone, Geißel, Nägel, Hammer und Zange trägt Katinka Brandt stets in einem kleinen Köfferchen bei sich. Das kostet allerdings ziemlich viel extra.

Im Mittelalter populär, galten Klageweiber über Jahrhunderte als ausgestorben. Zumindest in Westeuropa. Inzwischen haben Klageweiber auch in Deutschland wieder Konjunktur. Warum? Weil zu vielen Beerdigungen ja sonst niemand hingeht. Die Angehörigen leben oft dutzende Kilometer entfernt und können der Bestattung nicht beiwohnen. So buchen sie ein Klageweib, das die Trauerarbeit übernimmt. Der häufigere Grund aber ist, dass die Angehörigen bei der Beisetzung zwar anwesend sind und sich pietätvoll ins Fäustchen schluchzen, dem Verstorbenen aber mehr bieten wollen: den gebührenden Glanz, den ganz großen Gram, die totale Trauer mit Tränenbächen, Schmerzensschreien und allem Pipapo. Und das können eben nur Professionelle.

Derzeit gibt es in Deutschland 43 Professionelle, Tendenz steigend. Organisiert sind sie im Bundesverband deutscher Klageweiber. Die Mitglieder sind bunt gemischt: Ein paar Greisinnen sind darunter und minderjährige Gothic-Girls, mehrere mittellose Performance-Künstlerinnen sowie Nonnen aus der masochistischen Szene, die meisten arbeiten nur Teilzeit.

Katinka Brandt gehört zu den Vollzeitweibern. Ihre Auftragslage ist bestens. Und ihr Revier im Großraum Hamburg ein Glücksgriff: All die Kiezkönige und Kaufmänner, Zuhälter und Elbchaussee-Witwen wollen repräsentabel beerdigt werden. Und das werden sie. Denn Katinka Brandt klagt gut. Sie klagt fantastisch. Kaum eine klagt so hinreißend wie sie, so aufreibend, so niederschmetternd. Ihr Leichenbittermienenspiel ist perfekt, jede ihrer Gesten eine Geißel. Sie kann in Tränen ausbrechen aus dem Stand. Sie kann sich auf dem Erdboden wälzen wie ein Hängebauchschwein. Vor allem aber weiß sie: "Klagen ist nicht gleich Klagen. Die Abstufungen, die feinen, die Nuancen sind von großer Bedeutung. Zwischen einem leisen Lamento und einem ordentlichen Jammergeschrei liegen Welten."

Ihr Stimmrepertoire reicht vom rostigen Rasenmäher bis zur psychopathischen Primadonna. Weil jeder Stoßseufzer gelernt sein will, trainiert sie täglich, studiert neue Klagelautfolgen ein, ölt ihre Stimme allmorgendlich mit einem fauligen Eigelb. "Trauerarbeit ist Knochenarbeit", sagt sie, "auch am Feierabend." Wenn sie am Abend noch ins Kino oder zum Badminton will, ist erst mal einiges zu tun. Kratzwunden und blaue Flecken mit Make-up zukleistern, Haarknötchen aus den Locken bürsten, rissige Fingernägel verarzten, Dreckreste aus den Zahnzwischenräumen pulen. "Dennoch macht mir mein Job viel Spaß", bekräftigt sie. Man sei eben immer in Bewegung, viel an der frischen Luft und ständig unter Menschen, auch wenn nicht nur unter Lebenden. Und ab und an gibt es sogar was zu lachen. Wenn wieder mal der Erbkrieg schon am offenen Grab ausbricht. Dann beißt sich Katinka Brandt auf die Zunge, vergräbt ihr Gesicht in den Händen, bis ihr Glucksen in Schluchzen aufgeht.

Früher war ihr Arbeitsleben schlechter. Früher war sie Werbekauffrau einer großen Agentur. Wenn sie daran zurückdenkt, wird ihr speiübel. "Entwürdigende Arbeitsbedingungen. Drecksarbeit. Und immer der Druck durch die Kunden", knurrt die 36-Jährige. Jetzt liegen ihr die Kunden zu Füßen. Aber ob ihr das viele Gejammer nichts ausmacht? Ob ihr die gespielte Selbstentblößung niemals unangenehm ist? "Ach, ob ich öffentlich ein Sandwich verdrücke oder ein paar Tränen, ist mir eigentlich gleich", erklärt sie pragmatisch. Nur gewisse Kundenwünsche, räumt sie ein, seien dann doch etwas bizarr. Manche verlangten extravagante Kostüme, wollten, dass sie sich als Putzfrau verkleide, als Domina oder als Angela Merkel. Das würde sie ja gerade noch machen. Aber auf Junggesellenbestattungen strippen oder sich eine Hand abhacken, wie schon mehrfach angefragt - da sagt sie dann doch nein.

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