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Archiv-Artikel

„Die Angsthasen sitzen im Norden“

Die Menschen haben deshalb eine so überzogene Angst vor der Vogelgrippe, weil es sich bei dem Virus um eine neue Gefahr handelt, sagt der Angstforscher Borwin Bandelow. Mit der „German Angst“ hat dies Phänomen nichts zu tun

taz: Diagnostizieren Sie den Deutschen zurzeit einen Panikschub – wegen der Vogelgrippe?

Borwin Bandelow: Ja, weil viele Menschen schon bei dem kleinsten Husten denken, sie hätten die tödliche Hühnerpest.

Die Grippe zieht schon seit Jahrhunderten durch Europa. Ist die Panik neu – oder historisch gesehen – ganz normal?

Auch bei der Spanischen Grippe 1918 hatten die Menschen Angst. Der Unterschied: Damals sind Millionen Bürger gestorben. Das Risiko, dass hierzulande jemand wegen des Virus stirbt, ist bislang sehr gering. Noch kommen auf der Welt mehr Leute durch Tritte von Eseln oder durch heruntergefallene Kokosnüsse um als durch die Vogelgrippe. Und wer in Deutschland lebt, stirbt am wahrscheinlichsten an Bluthochdruck. Dagegen ergreifen wir aber keine Gegenmaßnahmen, wie weniger essen oder mehr bewegen. Wir ignorieren einfach die statistischen Verhältnisse.

Warum schätzen wir die Risiken so zuverlässig falsch ein?

Weil wir Gefahren übertrieben wahrnehmen, wenn sie neu sind. Sie erscheinen uns so, als könnten wir sie nicht in den Griff kriegen. Das erschüttert unseren Glauben und damit unser Grundverständnis, alle Lebensrisiken ausschließen zu können. Die Plage wird unberechenbar. Panik kommt auf. Das ist so bei der Vogelgrippe. Das war bei Aids in den 80er-Jahren nicht anders. Mittlerweile haben wir HIV-Medikamente – und die meisten haben die Krankheit schon wieder verdrängt. Dabei ist sie nach wie vor eine echte Gefahr.

Die Gesellschaft hält sich für technisch und rational. In Wahrheit reagiert sie aber irrational. Wie kommt es zu diesem Widerspruch?

Wir haben im Gehirn ein Gefahren-Warnzentrum, das äußerst subjektiv ist. Ich nenne es das „Ministerium für absurde Angst“. Es suggeriert uns bei der Vogelgrippe jetzt eine übergroße Gefahr. Das Ministerium flößt uns ein: „Du stirbst daran.“ Auf Einwände, es sei doch eine Geflügelkrankheit, sagt es: „Es hat aber schon Menschen getötet.“

Was raten Sie den Therapeuten, in diesem Fall den Politikern – diese lassen sich zurzeit zu immer neuen Maßnahmen treiben: Beruhigt der Aktionismus?

Die Gesellschaft lässt sich so nicht besänftigen. Im Gegenteil wird sie nur noch panischer. Aber die Regierung beruhigt sich selbst. Ein Minister hat Angst, zu spät zu handeln – und später für Versäumnisse die Verantwortung übernehmen zu müssen. Bislang ist aber noch keiner verjagt worden, weil er Gefahren überschätzt hat. Beispiel BSE: Der Nachweis, dass die Rinderseuche zu Todesfällen beim Menschen führt, beruhte auf äußerst dünnen Daten. Trotzdem wurden Millionen von Rindern geschlachtet. Über diese Übervorsicht hat sich im Volk aber kaum jemand beklagt.

Viele behaupten, die Deutschen seien ängstlicher als andere Völker. Zu Recht?

Die Amerikaner benutzen den Begriff der „German Angst“. Ein Journalist prägte ihn in den 50er-Jahren – und meinte damit die Angst der Deutschen vor einem neuen Nationalsozialismus. In den USA kam in den letzten Jahren die German Angst erneut auf. George W. Bush erklärte den Amerikanern damit, warum die Deutschen nicht am Irakkrieg teilnehmen wollten. Aber: Die Deutschen haben nicht mehr Angst als andere. Angsterkrankungen sind auf der ganzen Welt ungefähr gleich verteilt. Es gibt allenfalls Unterschiede darin, wie die Menschen in verschiedenen Kulturen im alltäglichen Leben mit realen Ängsten umgehen. Die einen schützen sich stärker, die anderen weniger.

Wie meinen Sie das?

Es gibt ein Nord-Süd-Gefälle. Der Ursprung der Menschen liegt ja möglicherweise in Äthiopien. Stück für Stück wagten sich einige nach Norden vor. Dort mussten sie sich daran gewöhnen, dass es monatelang kalt sein konnte. Wer überleben wollte, musste also vorausschauen. Er musste Brennmaterial sammeln und Nahrungsmittel wie Trockenfisch horten. Diejenigen, die hingegen keine Angst hatten, sind im Winter verhungert. Über einen jahrhundertelangen Prozess pflanzten sich so die Angsthasen fort, weil sie die bessere Überlebensstrategie hatten. Das erklärt, warum die Nordlichter oft vorsichtiger sind als Menschen in südlichen Gefilden.

Können wir geheilt werden?

Nein, diese Art von Angst behandeln wir nicht. Sie gehört zur Entwicklungsgeschichte. Menschen können sich an Gefahren gewöhnen: Als die Bomben im Zweiten Weltkrieg fielen, sind die Leute zwischen zwei Angriffen durch die Straßen gerannt und haben Brötchen beim Bäcker geholt. Jeder versuchte zu überleben, trotz der enormen realen Gefahr.

Wann hört der derzeitige Vogelgrippen-Panikschub auf?

Das geht rasch, nach ein paar Wochen. Das hat schon der Atomunfall in Tschernobyl gezeigt. Um sich vor der Radioaktivität zu schützen, verschmähten zunächst viele die Waldpilze. Manche strahlenden Stoffe haben aber eine Halbwertzeit von 30.000 Jahren. Zu unseren Lebzeiten wird die Gefahr also nicht mehr abnehmen – wir essen trotzdem wieder die Schwammerln.

INTERVIEW: HANNA GERSMANN