Freude an Kaputt

Alles fliegt aus dem Fenster: Die Möbel, die Menschen, die Liebe, die Höflichkeit, irgendwie auch das Drama und die Regie. Andrej Zholdaks inszeniert „Medea in der Stadt“ an der Berliner Volksbühne

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Tontechnik und Requisite haben gut zu tun an diesem Abend. Gewitterstimmung auf der Tonspur sorgt dafür, dass uns das Bewusstsein des Unheils nie verlässt. Jedes Geräusch ist verstärkt, jeder Riss akustisch vergrößert zum Öffnen eines Abgrunds. Personalintensiv wuselt es auf der Bühne in den ständigen Umbaupausen zwischen den Bildern. Wände, Wohnungen, Möbel und allerlei Vieh wird hinein- und herausgetragen.

Und was ist der Dank am Ende der fast fünfstündigen Schufterei? Da werden die Bühnenarbeiter erschossen von den zwei Kindern, den letzten, die das Stück „Medea in der Stadt“ bis dahin überlebt haben. „Kinder gehören ins Bett“, denkt man und fürchtet sich ein wenig. Denn jetzt sind nur noch wir übrig, das erschöpfte Publikum, um mit der Pistole auf uns zu zielen.

Verraten und verkauft, das sind wir alle. Andrij Zholdak sagt es uns. Er ist der Regisseur, den sich die Berliner Volksbühne als Gast aus der Ukraine eingeladen hat, um die eigenen, müde gewordenen Kräfte neu aufzumischen. Frisch aus einer Revolution gekommen und schon geschlagen mit der tragischen Erfahrung des Verrats. Ein Brief von Juri Andruchowitsch, abgedruckt auf dem Programmzettel, erzählt es uns – wie der Regisseur, selbst Idealen der Revolution verpflichtet, im vermeintlich neuen Charkow verboten und davongejagt wurde.

Die bittere Fortsetzung erzählt Carl Hegemann, Dramaturg der Volksbühne, auf der anderen Seite des Zettels. Wie der blasierte Westen die ersten Gastspiele Zholdaks in Berlin müde durchgewunken hat. Die Volksbühne erkannte in diesem Urteil die ganze Arroganz des Westen gegenüber der Kunst aus dem Osten. Und Andrij Zholdak hatte damit für seine erste neue Produktion an der Volksbühne eine Steilvorlage. Verhandelt „Medea in der Stadt“ doch nichts weniger als das Herausekeln der Fremden, und seien sie noch so klug. Doch bevor es zu „Medeia“ nach Euripides und „Medeamaterial“ nach Heiner Müller kommt, ist der erste Teil des Abends der Stadt Charkow gewidmet und einer Geschichte des Verfalls aller Werte. Nichts gilt mehr, Liebe, Familie, Loyalität, alles aus. Texte, groß projiziert, loggen uns ein in das Wohnhaus Nr. 37 in der Fünfzigerjahre-UdSSR-Jubiläumsstraße. Da kommt es, in einem fast zwei stündigen Crescendo, zu einer Eskalation der Zerstörung. Alles fliegt aus dem Fenster, die alte Wohnungseinrichtung, die Bewohner, die neue Wohnungseinrichtung, die Gäste. Alles zerscheppert, zerdeppert mit langem akustischem Nachhall; man ahnt, man weiß, Systeme und politische Ideologien sind gemeint, falsche Versprechen und täuschende Fassaden. Aber der erste Charme der skurrilen Bilder ist schnell verbraucht. Nach einer Stunde schon hat man jenes schale Gefühl, wie nach einer Nacht mit zu viel Zeichentrickfilmen, wo alle paar Sekunden jemand in die Luft fliegt und gleich darauf wieder um die Ecke gerannt kommt. Dabei ist noch nicht mal Halbzeit.

Die Figuren von Jason und Medea, die Jason aus der Fremde zu sich holte, und von König Kreon und seine Tochter Kreusa, der Medea weichen soll, sind schon da, eingeflochten in den großen Figurenfries, einige unter vielen: ebenso Material des ständigen Austauschs und der Gier nach Neuem wie die Kühlschränke, Sofas und Badewannen, die aus dem Fenster fliegen. Aber erst im zweiten Teil werden sie auch mit dem Text, wieder in Projektionen zu lesen, und dem Gang des Dramas verknüpft. Nicht mehr Charkow und die Gegenwart bilden den Horizont, sondern ein mythischer Ort, an dem alles geschieht und von allem das Gegenteil, festgehalten in Tableaus, in denen jede Handlung zur Wiederholung verdammt scheint.

Die Aufführung gleicht einem Museum, aus dem man nicht mehr herausfindet: und in jedem Raum wird eine neue Variante des alten Dramas gezeigt. Auch wenn einige dieser theatralen Installationen durchaus beeindrucken, verwischt die Masse den Eindruck der Qualität wieder. Das ist bedauerlich, nicht nur angesichts des Kraftaufwandes. Sondern vor allem, weil gerade in dieser anderen Erfahrung von Zeit ein Modell von Geschichte liegt, das über Wiederholungen und Varianten läuft und dennoch den Anspruch auf Veränderung nicht aufgegeben hat. Interessant eigentlich, nur zu tief verschüttet unter den vielen Bildern.