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Archiv-Artikel

Türkisches Trauerspiel

„Wenn hinten, weit, in der Türkei, die Profis aufeinander schlagen“, dann hat das mehr mit Fußball und Integration zu tun, als Fußballfans und Befürwortern eines EU-Beitritts der Türkei lieb sein kann

VON ARNO FRANK

Für ein paar Sekunden war es plötzlich ganz leicht, sich in die besorgten Gemüter christdemokratischer Türkenhasser einzufühlen. Ein irritierendes Gefühl. Genau genommen war es sogar ziemlich schwer, nach diesem Fußballspiel am Mittwochabend das instinktive Ressentiment zu unterdrücken: „Und die wollen nach Europa?“

Nachdem das türkische Team in Istanbul trotz eines 4:2 gegen die Schweiz die WM-Teilnahme verpasst hatte, mussten die Gäste „um unser eigenes Leben rennen“, wie der Schweizer Nationalspieler Marco Streller schildert.

Anstatt sich unmittelbar nach dem Schlusspfiff ihres Sieges freuen zu können, mussten die Eidgenossen ihre Haut vor den Wurfgeschossen retten, die von den Rängen auf sie niederprasselten – mit einem sofortigen Sprint die Kabine, wo ihnen allerdings türkische Spieler, Offizielle und sogar Ordnungskräfte weiter zusetzten: „Es war unfassbar“, erzählt der Schweizer Profi Raphael Wicky vom HSV: „Ich habe Schläge gegen den Kopf und in den Rücken bekommen.“

Sein Mannschaftskamerad Benjamin Huggel sei niedergetrampelt, Stephane Grichting nach einem Tritt zwischen die Beine ins Krankenhaus gebracht worden – die Wunde musste genäht werden. Zwei Stunden hatte sich die Mannschaft in der Kabine eingeschlossen, bevor sie unter Polizeischutz ins Hotel – und gestern zum Flughafen – eskortiert werden konnte.

Entsprechend empört reagierte denn auch Fifa-Funktionär Sepp Blatter, kündigte Konsequenzen an und verkündete die übliche Lüge: „Was passiert ist, ist des Fußballs unwürdig.“ Ist es das wirklich? Könnte es nicht auch das natürliche Gesicht dessen sein, woran wir uns allzu gerne entzücken, solange es nur im kulturell vorgegebenen Rahmen bleibt? Anders gefragt: Wenn jeder noch so dümmliche Ex-Tennisspieler weltweit als „Botschafter“ seiner friedliebenden „Sportnation“ wahrgenommen werden will – was ist dann die Botschaft der türkischen Nationalspieler und Fußballfans?

Es gehört zu den Grundfunktionen jeder aufgeklärten Zivilisation, dass sie ausgediente Massenpsychosen (wie etwa einen präpotenten Nationalstolz) in die Stadien umleitet.

Auch das Sükrü-Saracoglu-Stadion ist eine solche soziale Umerziehungsanstalt, ein Ort, an dem eine Gesellschaft ihr latentes aggressives Potenzial dadurch entschärft, dass sie es in Regeln einbindet und in Rituale des „sportlichen Wettkampfs“ verwandelt.

Am Mittwoch hat er sich in einen echten Kampf rückverwandelt, das kommt in den besten Gesellschaften vor und ist kein spezifisch türkisches Problem. Im Gegensatz zur verpassten WM-Qualifikation. Tja, so gerecht kann Fußball sein.