Nackt durch die Zeit

Ein Aussteiger berichtet von der gefährlichen Wahrheit-Sekte.

Ein Sektenmitglied bereitet sich intensiv auf eine Nacktzeitreise vor. Bild: ap

Jahrelang hat der Betroffene, der hier erstmals zu Wort kommt, geschwiegen, wie auch wir an dieser Stelle am liebsten seinen Namen verschweigen würden, um ihn zu beschützen. Aber Wenzel Bauer sucht die Öffentlichkeit: "Ja, ich war in einer Sekte!", bekennt der langjährige Wahrheit-Weltwetterkorrespondent. "Ich war in der Wahrheit-Sekte", bricht es aus ihm heraus wie der halbe Liter Buttermilch, den er in sich hinein geschüttet hatte, um Mut zu finden für sein Bekenntnis. Jetzt muss einfach alles hinaus. Lesen Sie das mutige Geständnis eines tapferen Sektenaussteigers:

Die Wahrheit ist schon lange eine Sekte. Und wie alle Sekten hat sie das Ziel, den Staat und seine Institutionen zu zerstören. Alles, was den Deutschen lieb und teuer ist wie Tofu, Nena und die FDP sollen in Grund und Boden gestampft werden. Und damit das gelingt, hat die Wahrheit-Sekte einen geheimen Plan gefasst, der so geheim ist, dass jeder, der von ihm weiß, in höchster Gefahr schwebt.

Doch bevor der geheime Plan an dieser Stelle zum ersten Mal der Weltöffentlichkeit präsentiert wird, soll die Geschichte der Wahrheit-Sekte erzählt werden. Nur so kann man sie verstehen. Denn die Wahrheit-Sekte ist keine Buch- oder Naturreligion, sondern eher praktisch veranlagt. Deshalb wurde sie im Jahr 1961 von einem deutschstämmigen Staubsaugervertreter namens Herbert Durst im kalifornischen Städtchen Tecopa gegründet. Weil aber die Anhänger der Wahrheit-Sekte dauernd unbekleidet herumliefen, wurden sie von den lokalen Behörden als gefährlich eingestuft. Schließlich flohen die ersten elf Mitglieder der Sekte nach Deutschland, nach Berlin-Kreuzberg.

Ihre erste Blütezeit erlebte die Wahrheit-Sekte in den frühen Siebzigerjahren, als sich ihr einige Prominente anschlossen: Heino, Katja Ebstein und Wim Thoelke traten dem Geheimbund bei, der sie mit einem wirksamen Versprechen köderte: Fett schärft die Sinne. Wer nur genug Schlachteplatte isst, wird in eine höhere Sphäre aufsteigen, die von den Wahrheit-Sektierern "Gourmet" genannt wird.

Eine Zeit lang war es ruhig um die Wahrheit-Sekte, bis sie Ende der Neunzigerjahre eine neue Blütezeit erlebte. Viele Kreuzberger fanden plötzlich Gefallen an dem Credo der Wahrheit-Sekte, das lautete: "Glaube an eine höhere Macht, die uns die Macht verleiht, nackt zu sein …" Dieses Mantra muss jeder Wahrheit-Anhänger mindestens eine Stunde am Tag vor sich hin sprechen. Dann kommt er in den Genuss der Nacktzeitreisen, die zentrales Element des Wahrheit-Glaubens sind. Kehrt man einmal von einer Nacktzeitreise zurück, hat man etwas erlebt, was einem nur eine Nacktzeitreise bieten kann. Dafür hat die Sekte eigens in Kreuzberg ein Nacktzeitreisebüro eröffnet, mit dem sie viel Geld verdient.

Innerhalb der Wahrheit-Sekte reden sich die einzelnen Mitglieder mit den ihnen vom Sektenführer gegebenen neuen Namen an. Das sind nicht etwa Tiernamen oder bedeutungsvolle Titel aus einer alten Sprache. Nein, die Wahrheit-Sekte betont ihre praktische Veranlagung und benennt ihre Mitglieder nach Haushaltsgeräten. So bezeichnet sich der Sektenführer als "Pürierstab", seine Anhänger heißen "Mixer" oder "Wäschetrockner". Es gibt einen "Toaster" wie einen "Kühlschrank". Damit will die Sekte die Einheit von irdischer und überirdischer Hausarbeit betonen. So gaukelt sie ihren Mitgliedern Realität vor. Alltag in der Wahrheit-Sekte aber bedeutet für manche Anhänger 18 Stunden am Tag Nacktputzdienst.

Einmal in der Woche kommen die Jünger der Wahrheit-Sekte an ihrem nur von fahlen Lichtern ausgeleuchten Versammlungsort zusammen. Dann sitzen sie unbekleidet um einen runden Tisch herum, halten kleine mit kostümierten Figuren bemalte Pappbögen in der Hand, die sie nach einem rituellen Zahlensingsang "in die Mitte klopfen", wie es in den brutalen Sektenanweisungen heißt. Wer die höchsten Zahlen besitzt, ist ein "Gewinner" und wird von anderen Sektenmitgliedern "bedient", so der knallharte Jargon. Der bedauernswerte Verlierer muss "mischen". Ein fürchterlicher Vorgang, bei dem alle leiden.

Nicht selten nehmen einzelne Mitglieder der Sekte Drogen, um in höhere Bewusstseinszustände zu entrücken. Diese stark riechenden Mittel werden in winzigen Glaskelchen gereicht und müssen nach einer obskuren Ansage hastig "hinter die Binde gekippt" werden. Ein trauriges Schauspiel, gerade wenn die Sektierer in Trance geraten und der Bedienung, welche die Drogen reicht, ein ums andere Mal eine Geheimformel entgegenschleudern: "Ein Kurzer!"

Der geheime Plan der Wahrheit aber lautet: Die Sekte will das Schweinebratensystem einführen - mit blanken Schwarten! Das sind gefährliche Spinner! Sie leben in einer Fantasiewelt. Deshalb ist die Abhängigkeit so groß. Besonders wenn man an die Nacktzeitreisen denkt, die wirklich nicht ohne sind. Also, wenn es nur die Nacktzeitreisen geben würde, dann, ja dann, aber nur dann …

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kari

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