: Zum Geburtstag aus dem Keller
Das Clemens-Sels-Museum in Neuss zeigt Teile des Bibelzyklus von Marc Chagall aus dem Bestand
Marc Chagalls Bilder stehen mittlerweile als billige Kunstdrucke in jedem Baumarkt. Im Clemens-Sels-Museum in Neuss gibt es allerdings nur wenige der knallbunten Ziegenböcke und auch keine schwebenden Liebespaare zu sehen. In der Ausstellung „Weisheit und Geheimnis – Die Bibel von Marc Chagall“ sind fast nur Radierungen und Lithografien in Schwarzweiß zu sehen. 30 seltene Probedrucke und Einzelblätter aus eigenem Bestand, die das Museum in den 1950ern kaufte und nun anläßlich des 20. Todestages von Chagall wieder ans Tageslicht holte.
Düster und wirr sind die Bilder, wie das Alte Testament, für das der Maler die Illustrationen schuf. Da gibt es die Geschichte, wo der Vater den Sohn abschlachten soll, dies in letzter Minute aber ein Engel vereitelt. Der hat bei Chagalls Kupfertiefdrucken die Gestalt eines Aliens. Ein unbekanntes Flugobjekt am flirrend-dunklen Nachthimmel. Ein muskelprotzender Superman-Angel kämpft mit Jakob. Dann doch eine Flattergestalt mit einem Ziegenkopf. Menschen sehen aus, als leben sie im im Ghetto. Natürlich sind die Handelnden des Alten Testaments Juden. Aber trug man damals schon Ballonmütze? In vielen der Arbeiten sind zwei Tragödien der Juden zu entdecken, die Tausende Jahre alte biblische und die des 20. Jahrhunderts.
Chagall begann seine Arbeit an seiner Bibel 1931. Bis zu seinem Gang ins us-amerikanische Exil waren 66 Radierungen fertig. Die Deutschen ließen die Kupferplatten, die in Paris zurückblieben, unbeschädigt. Entartete Kunst wurde nur im Reich zerstört. Die Franzosen, so die Auffassung der Nazis, durften sich damit ruhig schaden. Erst 1952 nahm der Künstler in Frankreich die Arbeit an seiner Bibel wieder auf. Vier Jahre später erschien sie erstmalig bei Tériade in Paris. Chagall ließ von seinen Steinen bis zu 12 Probedrucke erstellt. Oft veränderte er die Bilder zwischen den Abzügen. Diese Veränderungen können in der Ausstellung Blatt für Blatt nachverfolgt werden.
Tatsächlich erscheinen die endgültigen Drucke dunkler. Manchmal sind nicht nur Nuancen verändert, sondern das Motiv ist ein anderes. Im Litho „Der Auszug aus Ägypten“ ist in der Tériade-Bibel Moses ein mächtiger, dominanter König, der sein Volk führt. Über ihm schwebt eine düstere Wolke. Im Probedruck ist er dagegen noch eine Randfigur. Das Volk Israels erscheint als wild diskutierendes Durcheinander. Eine Wolke ist nur angedeutet. Vielleicht stammt der Probedruck noch aus der Zeit vor dem Exil, das endgültige Bild aus der Zeit danach Die Veränderung auf dem Bild entspricht der Wandlung, den die Juden damals vollzogen haben: Vom Ghettojuden mit Ballonmütze zum Kibbuzim mit Kalaschnikow.
Hat der Holocaust die Arbeiten verändert? Die Kuratorin Gisela Götte zitiert Chagall selbst. Dieser erklärte, dass man einen neuen Mose schaffen müsse, da der alte umgekommen sei. Ob sich diese Aussage auch auf „Der Auszug aus Ägypten“ bezieht, will Götte aber nicht bestätigen. Am Ende der Ausstellung gibt es dann doch den farbigen Chagall zu sehen. Die letzten 24 Drucke der Bibel sind bonbonbunt. Bereits Mitte der 1950er Jahre endete bei Chagall die schwarzweisse Ära. LUTZ DEBUS
Bis 19. Februar 2006
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