Zwei jahre Schwarz-Grün: Die Suche nach dem Konsens

Im taz salon zogen die Vorsitzenden der vier Fraktionen in der Hamburger Bürgerschaft ihre Bilanzen zur Halbzeit des CDU-GAL-Senats. Im Zentrum der Debatte am vorigen Donnerstagabend standen die Schulpolitik, Volksentscheide und das Recht auf Stadt.

Jens Kerstan, Dora Heyenn, Moderator Sven-Michael Veit, Michael Neumann und Frank Schira (von links nach rechts) beim taz salon. Bild: Hendrik Doose

taz: Frau Heyenn, können Sie uns die Schulpolitik von Schwarz-Grün erklären?

Dora Heyenn: Der schwarz-grüne Kompromiss, eben die sechsjährige Primarschule, ist nicht das, was wir Linke für optimal halten. Wir hätten gerne gemeinsames Lernen bis zur zehnten Klasse. Ich war sehr erschrocken, mit welcher Wucht selbst gegen diese, aus unserer Sicht sehr kleine, Reform mobilisiert wurde, das ist ein echter Schulklassenkampf. Ich bin jetzt sehr froh, dass sich Schwarz-Grün nicht mehr von der Initiative "Wir wollen lernen" vorführen lässt und Rückgrat zeigt.

Jens Kerstan: Na, da freue ich mich aber, auch von der Opposition Zustimmung zu hören. Und ich würde mich freuen, wenn auch noch die SPD bei der Umsetzung mithelfen würde. Denn je länger wir mit der Initiative verhandelt haben, umso größer ist auch meine Überzeugung geworden, dass diese Truppe keinen Einfluss auf unsere Schulpolitik bekommen darf.

Dora Heyenn, 60, Linke

Frank Schira, 45, CDU

Kaufmännischer Angestellter, seit 1997 Mitglied der Hamburger Bürgeschaft (MdHB), 2004 Fraktionsvize, Fraktionsvorsitzender seit 2008.

Jens Kerstan, 44, GAL

Volkswirt, 2001 bis 2008 GAL-Parteivize, MdHB seit 2002, Fraktionsvorsitzender seit 2008.

Michael Neumann, 39, SPD

Politologe, studierte an der Helmut-Schmidt-Uni, Berufssoldat a.D., MdHB seit 1997, Fraktionsvorsitzender seit 2004.

Frank Schira: Was wir in den Verhandlungen angeboten haben, ging an die Schmerzgrenze. Dass die Initiative nicht eingeschlagen hat, finde ich bedauerlich. Ich bin optimistisch, dass wir eine gute Chance haben, mit diesem Volksentscheid mehr Gerechtigkeit im Schulwesen hier in Hamburg zu bekommen.

Michael Neumann: Ich finde es bedauerlich, dass wir jetzt überhaupt diesen Konflikt haben. Denn Bildungspolitik ist ein Thema, das möglichst konsensual und mit langfristiger Verlässlichkeit für alle behandelt werden sollte. Im Ziel sind wir uns hier offenbar alle einig, und es ist ja nahezu einmalig in Deutschland, dass auch die Konservativen sich zum längeren gemeinsamen Lernen bekennen. Wir Sozialdemokraten werden jetzt selbst Vorschläge machen, wie man aus dem Reformversuch was Anständiges machen kann.

Welche Vorschläge macht die SPD denn?

Neumann: Die Neugier verstehe ich, aber die Verhandlungen finden nicht hier auf dem Podium statt. Es wäre nicht klug, jetzt Vorbedingungen zu formulieren. Aber der Elternwille ist sicher von zentraler Bedeutung, die Lehrmittelfreiheit wäre ein anderer Punkt. Wenn alle bereit sind, über ihren Schatten zu springen, halte ich eine Einigung für möglich.

Kerstan: Wenn alle vier Fraktionen im Parlament einen schulpolitischen Konsens formulieren, wäre das ein wichtiger gesellschaftlicher Fortschritt. Ich hoffe, dass auch die SPD da die Kurve kriegt.

Neumann: In Bremen wurde vor einigen Jahren ein Bildungskompromiss erreicht zwischen CDU, SPD, Grünen und sogar der FDP. Als ich das vorgeschlagen habe vor einem halben Jahr, hat die grüne Schulsenatorin Christa Goetsch gesagt, mit der SPD reden wir überhaupt nicht. Und deshalb ist das Schlimme, dass erst dieser Volksentscheid CDU und Grüne dazu bringt, nach vernünftigen Kompromissen zu suchen. Es wäre besser gewesen, wenn man den parlamentarischen Konsens von vornherein gesucht hätte.

Schira: Die SPD ist oft auch weggetaucht und hat keine Verantwortung in dieser Sache gesucht. Aber jetzt freue ich mich darauf, wenn sie mal mit konstruktiven Vorschlägen kommt.

Frau Heyenn, gibt es die Chance auf einen Konsens der vier Fraktionen und Parteien?

Heyenn: Das Wichtigste ist Bildungsgerechtigkeit. Ich sehe durchaus Chancen für eine Verständigung. Einen Kompromiss um jeden Preis kann es aber nicht geben.

Neumann: Wir müssen endlich mal für mindestens eine Schülergeneration, also für zehn oder zwölf Jahre, Ruhe ins System bekommen. Lehrer, Schüler und Eltern müssen wissen, woran sie sind, und nicht befürchten, dass jede neue Regierung wieder alles auf den Kopf stellt.

Alle einverstanden?

Schira: Ja.

Kerstan: Gerne.

Heyenn: Ja.

Besteht nicht die Gefahr, dass ein Volksentscheid nicht versöhnt, sondern spaltet?

Heyenn: Demokratie lebt von Alternativen. Die muss man eben deutlich machen und am Ende Mehrheiten akzeptieren.

Kerstan: So sehe ich das auch. Nach dem Volksentscheid wird es für viele Jahre keine andere Entscheidung geben können, und deshalb ist es so wichtig, dass wir den Entscheid gewinnen.

Bereuen Sie und die GAL inzwischen, Herr Kerstan, dass Sie so nachdrückliche Verfechter der direkten Demokratie waren? Und sind Sie es noch, obwohl sich das gegen grüne Politik zu wenden droht?

Kerstan: Dieses Risiko war uns bewusst. Ich hätte mir natürlich nicht gewünscht, dass wir das am Beispiel Schulpolitik durchfechten müssen. Aber an der Idee hat sich nichts geändert. Wir sind weiterhin Verfechter der direkten Demokratie.

Heyenn: Die direkte Demokratie ist ja auch eingeführt worden als Mittel gegen Politikmüdigkeit. Insofern ist das ein ganz wichtiges und unverzichtbares Mittel.

Neumann: Ja zu den Volksentscheiden, das ist klar. Das Gemeinwohl ergibt sich in der pluralistischen Gesellschaft eben durch den Streit von Meinungen, und dann muss eine Kompromissfähigkeit vorhanden sein.

Schira: Direkte Demokratie ist zwar ein wichtiges Mittel, aber ich bin skeptisch, ob sie das Allheilmittel ist. Die wesentlichen Entscheidungen müssen weiterhin im Parlament gefällt werden. Bei Volksentscheiden würde ich vor einer Ausweitung warnen, vor einem Zurückrudern aber ebenfalls.

Beim Thema Ikea im Bezirk Altona gab es zwei gegenläufige Begehren. Wird das Verfahren dadurch nicht zur Farce?

Kerstan: Es ist genau richtig, dass die Bürger entscheiden. Aber wir müssen das Verfahren so ändern, dass die einmal getroffene Entscheidung gilt und nicht alle paar Monate geändert werden kann. Es wäre besser, über Pro und Contra an einem Tag in einem Entscheid abzustimmen. Das wollen wir demnächst mit der Initiative "Mehr Demokratie" besprechen.

Heyenn: Das würde auch verhindern, dass mit tendenziösen Abstimmungstexten getrickst werden kann, wenn beide Alternativen sich gegenüberstehen. So wie bei Ikea sollte das nicht wieder laufen, das sollten wir regeln.

Neumann: Das sehe ich auch so. Wir sind da noch ein bisschen in der Experimentierphase mit dem Instrument Volksentscheide. Eine Situation wie mit Ikea gab es noch nie, daraus sollten wir lernen und das Verfahren sauber und transparent neu gestalten.

Schira: Wenn Dinge haken, müssen wir das ordentlich regeln, das ist klar.

Es gibt ein Beispiel, in dem Bürger eine Änderung von Politik ohne formale Mittel wie Volksbegehren erreicht haben - das Gängeviertel. Ist das ein neuer Weg, die Stadt im Dialog zwischen Bürgern und Politikern weiter zu entwickeln?

Neumann: Politik ist druckempfindlich, und die Künstlerinitiative hat mit Unterstützung durch eine sympathisierende Öffentlichkeit Druck erzeugt. Dazu hat sicher beigetragen, dass diese Aktion vollständig friedlich war und die Künstler die Kultur der Debatte wieder belebt haben. Das konnte niemand ignorieren, damit musste die Politik sich auseinandersetzen.

Kerstan: Es ist ein Zeichen dafür, dass die Menschen sich wieder mehr einmischen. Beim Gängeviertel hat uns Grünen das Bürgerengagement geholfen, dieses Quartier zurückzuholen. Für die Stadt als lebendigen Ort ist das ein Fortschritt, der da im Dialog erreicht wurde.

Schira: Da sind uns schon die Augen geöffnet worden, das muss ich selbstkritisch einräumen. Und besonders bei mir in der CDU kamen schon Fragen wie: "Und der Investor? Den können wir doch nicht vergraulen." Da hat es durch das Gängeviertel deutliche Veränderungsprozesse gegeben in der Fraktion und in der Partei hin zu einem offeneren Verständnis vom Leben in der Großstadt.

Heyenn: Die Frage, wer wehrt sich und wie, hat immer was zu tun mit sozialer Situation und Bildungsstand. Soziale Ausgrenzung führt ja oft zu Resignation und Lethargie. Beim Gängeviertel hat eine gesellschaftliche Bewegung auf Fehlentwicklungen aufmerksam gemacht, und die Politik war bereit und in der Lage, das zu korrigieren. Das ist insofern ein gutes Beispiel, davon hätte ich gern mehr in dieser Stadt.

Warum geht die Politik mit einer Häuserbesetzung durch nette, wortmächtige Künstler anders um, als sie es bei Obdachlosen oder so genannten Chaoten gemacht hätte? Warum gibt es ordnungspolitische Unterschiede zwischen Gängeviertel und Schanzenfest?

Kerstan: Wir Grüne fanden schon immer, und dabei bleiben wir, dass gesellschaftliche Konflikte nicht mit repressiven Mitteln zu lösen sind. Insofern freue ich mich, dass es beim Gängeviertel auch mit der CDU möglich war, sich mit dem Anliegen zu beschäftigen statt es wegzudrücken.

Neumann: Das ist eine Frage von Frieden stiftender Wirkung in der Gesellschaft. Man muss deeskalieren und rationale Lösungen suchen. Manche lernen das eben später. Vielleicht macht die CDU ja gerade einen begrüßenswerten Evolutionsprozess durch.

Schira: Stimmt. Das war eine kluge Entscheidung von uns.

Heyenn: Es hat immer viel damit zu tun, wer das Gegenüber ist. Deshalb ist der Umgang mit dem Gängeviertel ein viel zivilerer als mit dem Schanzenviertel.

Seit drei Monaten haben wir nichts mehr zum Thema gehört. Wie steht es mit den versprochenen Ergebnissen?

Kerstan: Es finden Gespräche statt, die Planungen sind noch nicht abgeschlossen, aber ich bin sicher, dass da etwas Gutes bei rauskommt.

Wir lernen also: Es gibt immer noch Hoffnung, auch bei Schwarz-Grün. Danke für das Gespräch.

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