Bloß ein Konstrukt

PARIS In Frankreich kritisiert eine antirassistische Initiative die „Ehe für alle“ als westliche Norm

Erstaunlicherweise hat die jetzt vom französischen Parlament beschlossene „Ehe für alle“ nicht nur bei Konservativen Unbehagen ausgelöst, sondern auch bei einigen Vertretern des linksradikalen Lagers. Auch wenn sie wenig zahlreich sind: Es gibt französische Linke, die bei dem liberalen Gesetz das „postkoloniale“ Frankreich am Werk sehen.

Einen Einblick in die linksradikale Ablehnung der Reform gab eine Debatte, die vor Verabschiedung des Gesetzes in der viel gelesenen Internetzeitung „Rue 89“ geführt wurde. Sie begann mit einem Artikel, dessen Titel ironisch ankündigte, „noch stärker“ als Frigide Barjot – die bekannte Wortführerin der konservativen Gesetzesgegner – seien die „Indigènes de la République“. Bei Letzteren handelt es sich um eine antirassistische Gruppierung, die schon mit ihrem Namen anprangert, dass ihrer Meinung nach das „weiße Frankreich“ die Kolonialpolitik nun gegenüber inländischen „Eingeborenen“ – den eingewanderten Nachkommen der einstigen Kolonisierten – fortsetze.

Die Stichworte für die Debatte, die dann bald auch in der Blogosphäre heftig aufflammte, fanden sich in einem Artikel mit Stellungnahmen von Houria Bouteldja, der streitbaren Sprecherin der „Indigènes“, und von Stella Magliani-Belkacem und Félix Boggio Ewanjé-Epée, zwei den „Indigènes“ nahestehende Autoren. Auch Gedanken, die beide in ihrem Buch „Les féministes blanches et l’empire“ geäußert haben, spielten eine Rolle.

In der linksradikalen Polemik gegen das Homo-Ehen-Gesetz ging es nicht, wie oft bei den konservativen Ablehnern, um das Los von Kindern gleichgeschlechtlicher Eltern, sondern um die Frage, ob es für dieses Gesetz in den Banlieues überhaupt eine Anwendung geben könne. Houria Bouteldja hatte nämlich behauptet, dass „homosexuelle Identität“ ein Luxus sei – den Armen genauso unerschwinglich „wie Kaviar“ – und die „Ehe für alle“ also nur für „Weiße“ interessant sein kann.

Tiefer führte die soziologische These, dass es in arabischen Gesellschaften gar keine „homosexuelle Identität“, sondern nur „homosexuelle Praktiken“ gebe. „Homosexuelle Identität“, so Magliani-Belkacem und Ewanjé-Epéedie, sei ein soziales Konstrukt, das eng an die westliche kapitalistische Moderne gebunden sei. Die typisch okzidental festgestanzte Binarität von hetero- und homosexuell entspreche nicht den arabischen Traditionen und auch nicht denen der „Eingeborenen“ der Republik. Die „Ehe für alle“ muss in diesem Kontext nicht nur als völlig unnötig, sondern als etwas Schlimmeres erscheinen: als Teil einer Normalisierungsoffensive, die einmal mehr Identitätsmuster durchsetzen will, die dem „weißen Franzosen“ entsprechen.

Diese Distanzierung von der „Ehe für alle“ steht im Kontext der Kritik, wie sie seit einigen Jahren Antirassisten mehrfach an der Position westlicher Homosexuellen-Organisationen gegenüber arabischen Kulturen geäußert haben. Der Vorwurf: Diese wollen, wie gehabt, „zivilisieren“, galoppieren bei ihrem Kreuzzug aber statt auf dem alten Gaul der Menschenrechte auf dem neuen Ross eines sogenannten „impérialisme gay“.

CHRISTOF FORDERER