Pädagogischer Eros: Das Ende des Schweigens

Was wir heute als Missbrauch ansehen, war fester Teil höherer Pädagogik – unter Ausschluss der Frau. Siebzehn Gedanken zur Missbrauchsdebatte.

Der Knabe/Jüngling gibt sich dem älteren Mann hin, weil dieser ihn in die Prinzipien eines männlich-tugendhaften Lebens einführt - Neoninstallation "Seven Figures" von Bruce Nauman. Bild: dpa

1. Die öffentliche Diskussion um den Missbrauch an Schulen und Internaten ist wichtig. Es ist gut, dass sie endlich öffentlich geführt wird, denn vieles ist bereits länger bekannt. Erste Diskussionen um die Odenwaldschule gab es bereits 1999, der betroffene ehemalige Schulleiter, Gerold Becker, hat damals alle seine Ämter niedergelegt. Allerdings kehrte er nach zwei Jahren in den Vorstand der Lietz-Schulen zurück. Die meisten jetzt öffentlich diskutierten Fälle stammen aus der Zeit bis 1985, sie liegen also 25 bis 40 Jahre zurück.

2. Interessant ist, warum diese Diskussion jetzt erst als breite Debatte öffentlich geführt wird. Das Schweigen hat Gründe, die bei den Opfern und in der Vergangenheit zu suchen sind.

3. Gerade weil es oft lange dauert, bis Betroffene darüber sprechen können, ist die Verjährung problematisch, jedenfalls auch juristisch nicht immer so eindeutig, wie von Täterseite gerne betont.

4. Dass es häufig so lange dauert, hat - nach allem, was wir wissen - offensichtlich gleichermaßen mit Scham wie mit Loyalitäten gegenüber beispielsweise Lehrern zu tun, aber auch damit, dass es den Opfern oft nicht gelang, sich Gehör zu verschaffen.

5. Es ist wichtig, zwischen verschiedenen Formen des Missbrauchs genau zu unterscheiden. Geht es um das Quälen von Behinderten, etwa von Autisten, wie in einer Einrichtung der Diakonie Rheinland, oder geht es um sexuellen Missbrauch wie in anderen katholischen Einrichtungen und Schulen oder eben in der Odenwaldschule?

6. Es sollte demnach genau unterschieden werden zwischen sexuellem Missbrauch und anderen Formen des Missbrauchs, genaues Hinsehen und Differenzieren ist also gefragt.

7. Es stellt sich so dar, dass mehr oder weniger geschlossene Einrichtungen, wie etwa Internate, die ihre eigenen Binnenwelten erzeugen und sich oft auch - im Selbstverständnis von der Außenwelt absetzten ("wir sind anders") - in besonderer Weise betroffen und prädestiniert für sexuellen Missbrauch sind. Dies ist eine Gemeinsamkeit zwischen dem katholischen Aloisius-Internat in Bonn-Bad Godesberg und der Odenwaldschule.

8. Trotzdem weisen die - oft vermutlich impliziten und stillschweigenden - Begründungsmuster und Legitimationen für die Vorfälle Unterschiede auf. Der Missbrauch in katholischen Einrichtungen wurde lange vermutlich mit einer starken Hierarchie zwischen den Generationen, eben einem autoritären Prinzip, legitimiert. Daraus resultierte auch die Sicherheit, dass die Missbrauchten und Betroffenen schweigen werden.

9. In der reformpädagogischen Odenwaldschule haben andere Begründungen dazu geführt, die Praxis des sexuellen Missbrauchs von jüngeren Schülern (Knaben) durch ältere Lehrer zu legitimieren - nämlich das in der Antike, genauer bei Platon, ausformulierte Prinzip des pädagogischen Eros. Das die Berufung auf den "pädagogischen Eros" in der Odenwaldschule explizit eine Rolle spielte und präsent war, wird in den neuesten Kommentaren deutlich. Es wurde dort, so schreibt Amelie Fried, ehemalige Schülerin der Odenwaldschule, "gern das Ideal der griechischen Knabenliebe bemüht, womit dem kriminellen Treiben gewissermaßen die höheren Weihen verliehen wurden" (FAZ, 13. März).

In Platons "Gastmahl" wird ein sexuelles Verhältnis von älteren Männern (Freund) zu Jünglingen (Geliebter) als pädagogisches Prinzip legitimiert. Der Knabe/Jüngling gibt sich dem älteren Mann hin, weil dieser ihn in die Prinzipien eines männlich-tugendhaften Lebens einführt. Dessen Handeln wiederum ist eben durch diese Unterweisung in der Tugendlehre und der tugendhaften Lebensführung gleichfalls legitimiert. Indem das sexuelle Verhältnis zugleich ein pädagogisches - also ein Lehr-Lern-Verhältnis - ist, wird es geadelt, denn hier wird - so die Begründung - eine höhere Form des Eros praktiziert, als dies bei einem lediglich körperlich-leiblichen Eros der Fall ist. Damit adelt also Pädagogik Pädophilie und Pädophilie begründet Pädagogik.

Bei Platon wird zwischen zwei Formen des Eros, einem niedrigeren und einem höheren, unterschieden. Durch jene höhere sexuelle Beziehung zwischen Mann und Jüngling wird darüber hinaus so etwas wie eine zweite Geburt unter Männern begründet, unter Ausschluss des Weiblichen. Dezidiert wird bei Platon mit diesem pädagogischen Verhältnis homosexuelle und homosoziale Praxis grundsätzlich legitimiert, denn Eros sei ein Gott, der ohne Mutter geboren sei, und deshalb sei es nur nachzuvollziehen, dass es die besten Männer zu diesem von einem Mann geborenen Eros ziehe. Die Geburt aus dem Schoß einer Frau wird in dieser Erzählung ausgeschlossen - und durch eine männlich symbolisierte ersetzt. Damit ist der gebildete Jüngling das Ergebnis einer pädagogischen Geburt des Mannes (Freund), an dem jedoch auch der Körper und seine Lüste Teil hatten. Es handelt sich bei der pädagogischen Geburt also um einen männlichen Zeugungsakt unter Umgehung der Frau.

10. Dieser auf die Antike zurückgehende Begründungskonnex für die Liebe zwischen männlichen Lehrern und ihren Schülern, der homosexuelle und homosoziale Praxis legitimiert, wurde bereits in der älteren reformpädagogischen Tradition rezipiert. Der Reformpädagoge, Gründer der "Freien Schulgemeinde Wickersdorf" (1906) und zentrale Gestalt der deutschen Jugendbewegung, Gustav Wyneken, verfasste 1921 - unter Bezugnahme auf die Antike - eine Schrift mit dem Titel "Eros". Er forderte ein Bekenntnis zum "wirklichen Eros" "als den allein erlösenden und zeugenden", dessen "Reich" zu gründen Aufgabe der "wirklichen Jugend" sei. Auch Gustav Wyneken war seinerzeit der Prozess wegen Missbrauchs seiner Schüler gemacht worden. Seine Ämter als Schulleiter legte er 1920 nieder, elf Jahre später erfolgte ein weiterer Missbrauchsvorwurf.

11. Die deutsche bürgerliche Jugendbewegung und - mit ihr teilweise verknüpft - die deutsche Reformpädagogik weist historisch Formen männerbündischer Praxen und Legitimationen auf, die homoerotische und homosexuelle Praktiken und Legitimationsmuster nicht ausschließen und in der antiken Konstruktion des pädagogischen Eros auch eine - jedenfalls implizite - Legitimation für Pädophilie fanden. Diese Bezugnahme auf die Antike ist - in den bildungsbürgerlichen Tradierungen - nicht verwunderlich. Dass sich Konstruktionen und Entwürfe des deutschen bildungsbürgerlichen Mannes wesentlich auf die Griechen und das griechische Schönheitsideal beriefen, um sich so auch vom männlichen Arbeiter abzusetzen, hat der Historiker George Mosse überzeugend gezeigt ("Das Bild des Mannes", 1997). Forschungen zu Jugendbewegung und Männerbund gibt es in jüngster Zeit verstärkt, so etwa die Studie von Claudia Bruns zur "Politik des Männerbundes" (2008). Auch das neue Buch von Ulrich Raulff, "Kreis ohne Meister" (2009), über das Fortleben des George-Kreises liefert interessante Hinweise auf das subkutane Weiterwirken antiker Rezeptionen im deutschen Bildungsbürgertum und damit verbundener homoerotischer Sympathien.

12. Vorwürfe gegen unhaltbare Zustände vor allem in Einrichtungen der katholischen Kirche, aber auch in einigen evangelischen Jugendheimen, gibt es seit den 1960er-Jahren. Diese wurden etwa im Rahmen der Heimkampagne, die von linken und linksradikalen Akteuren im Kontext von 68 initiiert wurden, erstmals erhoben. Die Verantwortlichen, insbesondere der katholischen Kirche, haben sich lange ihrer Verantwortung entzogen. Das ganze Ausmaß von Unterdrückung und Missbrauch, aber auch der Weigerung, Stellung zu beziehen und die Verantwortung zu übernehmen, ist jetzt in einem sehr lesenswerten Buch von Peter Wensierski "Schläge im Namen des Herrn" (2008) dokumentiert. Brutale Misshandlungen - dies wird auch bei Wensierski deutlich - von Kindern und Jugendlichen gingen und gehen auch von Frauen aus. Dies schließt sexuellen Missbrauch ein, wie die neuesten Vorwürfe gegen Nonnen in den Niederlanden zeigen. Sexueller Missbrauch durch Frauen ist jedoch deutlich minoritärer, vor allem aber ist er nicht durch einen tradierten Diskurs symbolisch legitimiert, wie den von der antiken Erzählung des pädagogischen Eros unter Männern.

13. Auch im Kontext der 68er-Bewegung, etwa im Rahmen der Kinderladenbewegung, gab es Pädophilievorwürfe, aber bisher keine Missbrauchsvorwürfe. Mögliche Pädophilie legitimierte sich hier jedoch, anders als bei der katholischen Kirche, nicht mit einer Hierarchie zwischen den Generationen, sondern gerade aus einer Enthierarchisierung der Generationendifferenz und der Annahme, dass Kinder ihre Triebe ausleben müssten, um zu freien und mündigen Erwachsenen zu werden. Dass sich der Erwachsene kindlichem Begehren nicht entziehen dürfe, war hier die Perspektive. Auch dazu gibt es inzwischen historische und bildungsgeschichtliche Forschungen (Bourg 2006; Baader 2008). Die Figur Gerold Becker gehört - historisch - auch in diesen Kontext, in dem die sexuellen Aufbrüche der 60er-Jahre als Legitimation benutzt wurden und die "sexuelle Befreiung" den angeblich verklemmten Schülern und Schülerinnen entgegengehalten wurde.

14. Resümieren wir also die derzeitigen Debatten und ordnen sie historisch ein, so ist Pädophilie kein historisch neues Phänomen. Aber historisch neu ist, dass man sich auf das Schweigen darüber nicht mehr verlassen kann - nicht mehr auf das Schweigen der Missbrauchten, vor allem aber auch nicht mehr auf das der schützenden Netzwerke und Mitwisser in den entsprechenden Institutionen, sei es in der Kirche, sei es in der Odenwaldschule, sei es in den Medien. Das Ende der Diskretion ist also das eigentliche Novum. Es schließt das Ende einer asymmetrischen Diskretion von Mitwissenden, die selbst keine Täter sind, ein. Dieses Prinzip hat historisch lange funktioniert, scheint jetzt aber ausgedient zu haben.

15. Die derzeitige öffentliche Diskussion ist auch vor dem Hintergrund einer - aktuellen und berechtigten Diskussion - um mehr Männer in der Erziehung, etwa in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen, wichtig (siehe etwa auch taz vom 8. 3. 2010). Differenzierung jedoch tut not, um nicht von einander zu Unterscheidendes unter der allgemeinen Formel "Missbrauch" zum Amalgam werden zu lassen.

16. Aufklärung tut not, aber eben genau in jener differenzierten Perspektive, um nicht eine erregte öffentliche Stimmung zu erzeugen, die zu dem führt, was die unlängst verstorbene Autorin Katharina Rutschky als "Missbrauch mit dem Missbrauch" bezeichnet hat.

17. Und ein letztes: etwa 75 bis 80 Prozent aller Missbrauchsfälle findet nach wie vor in den Familien statt.

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