Milli Görüs-Gründer in Duisburg: Schlichtes Weltbild

Necmettin Erbakan ruft in Duisburg die Massen zusammen und wettert gegen den Westen. Seine Anhänger sind aus ganz Europa angereist und verehren ihn für seine Parolen.

Möchte das Osmanische Reich wieder auferstehen lassen: Necmettin Erbakan (Mitte) redete fast zwei Stunden. Bild: Pascal Beucker

DUISBURG taz | Der Beifall ist ohrenbetäubend, als Necmettin Erbakan um kurz nach 12 Uhr die Bühne betritt. "Mücahid Erbakan", tönt es in der Duisburger Mercatorhalle aus tausenden Kehlen, was sich in etwa mit "Anführer Erbakan" übersetzen lässt. Der frühere türkische Ministerpräsident wirkt sehr gebrechlich. Das Gehen fällt dem 83-Jährigen schwer. Es könnte der letzte Auftritt des islamistischen Politikers in Deutschland sein.

Vor der Halle stehen unzählige Reisebusse. Aus ganz Europa sind die Anhänger Erbakans an diesem Sonntag nach Duisburg gekommen. Sie wollen mit dem Greis, eine Art Jean-Marie Le Pen des türkischen Islamismus, das 40-jährige Jubiläum der von ihm in der Türkei gegründeten Milli-Görüs-Bewegung feiern. Im Foyer haben sich riesige Schlangen gebildet. Akribisch wird jeder abgetastet, der in den großen Veranstaltungsraum möchte. Im Saal herrscht strikte Geschlechtertrennung. Der Innenraum ist den Männern vorbehalten. Die Frauen - ausnahmslos mit Kopftuch, einige im Tschador - sitzen hoch oben auf der Empore.

Mit Erbakan auf dem Podium sitzt die Führung der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Die Organisation, der bis heute das Kainsmal "Beobachtung durch den Verfassungsschutz" anhängt, gilt als die größte Interessenvertretung der im europäischen Ausland lebenden Türken. Nach eigenen Angaben gehören der IGMG 87.000 Mitglieder an, die in 514 Gemeinden in Europa organisiert sind, 323 soll es in der Bundesrepublik geben. Der Verfassungsschutz spricht von 29.000 Mitgliedern.

Fast zwei Stunden redet Erbakan, der in den Fünfzigerjahren an der Technischen Hochschule Aachen studiert hat. Er wettert gegen den Westen und dessen "rassistischen Imperialismus" und beschwört die gute alte Zeit des Osmanischen Reichs, die er gerne wiederauferstehen lassen würde. Der Kommunismus habe ausgedient, der Kapitalismus sei in der Krise, beide unterdrückten die Menschheit. Milli Görüs arbeite "für die Erlösung der ganzen Menschheit", verkündet er.

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Es gebe nur zwei Kategorien von Menschen: die Milli-Görüsler, die für Gerechtigkeit einträten - und die anderen, die das nicht täten. Es ist ein einfaches, schlichtes Weltbild, das Erbakan vermittelt. Die Führungsspitze der IGMG schaut verkniffen.

1971 in Braunschweig auf Anweisung Erbakans unter dem Namen Türkische Union Deutschland e. V. gegründet, trägt die IGMG nach einigen Transformationen und Umbenennungen seit 1994 ihren heutigen Namen. Der Begriff milli görüs (religiöse nationale Weltsicht) geht auf ein 1973 veröffentlichtes gleichnamiges Buch Erbakans zurück, in dem er seine Strategie zur Errichtung einer islamischen Republik in der Türkei darlegt.

Seit einigen Jahren bemüht sich die IGMG, eine größere Eigenständigkeit von der türkischen Milli-Görüs-Bewegung zu erreichen. Doch heute ist davon nichts zu erkennen. "Wir müssen Rücksicht nehmen auf unsere älteren Mitglieder", sagt ein junger Funktionär hinter vorgehaltener Hand. Die IGMG sei eben kein homogener Verband. Also macht die Verbandsspitze gute Miene zum bösen Spiel. Denn es ist offenkundig: Trotz aller Modernisierungsbemühungen verehren viele IGMG-Anhänger bis heute Erbakan abgöttisch.

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