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Archiv-Artikel

Zuerst mal ein Blick über den Tellerrand

GRUNDLAGEN Alle Erstsemester setzen sich an der Uni Lüneburg in einem Studium Generale mit dem Thema Nachhaltigkeit auseinander

Das Konzept: über das eigene Fachgebiet hinaus an konkreten Problemen arbeiten

VON JOACHIM GÖRES

Welche Rolle spielt der Umweltschutz im Film „Die Simpsons“? Massen von Studierenden schieben sich durch den Hörsaalgang der Universität Lüneburg, auf dem fünf Studenten sich mit ihrer Analyse der beliebten Fernsehserie präsentieren – zusammen mit Dutzenden von weiteren Erstsemestergruppen, die dort den Kommilitonen ihre Projekte zum Thema Nachhaltigkeit vorstellen. Da laufen zwei Erstsemester im orangen Garnelenkostüm durch die Gegend und informieren über die Folgen der Garnelenmassenzucht. Ein paar Meter weiter werben Studentinnen mit großen Plakaten am Körper für eine selbst organisierte Ökomodenschau.

Wissenschaft kann Spaß machen und zugleich nur funktionieren, wenn man sich fächerübergreifend mit praktischen Fragen auseinandersetzt – das ist die Botschaft des Leuphana-Semesters, in dem sich alle Studienanfänger an der Uni Lüneburg fächerübergreifend mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen. Das Fachstudium beginnt erst im zweiten Semester. Dieses Studienmodell ist bundesweit einmalig.

Die Erstsemester bekommen im gemeinsamen Studium Generale unter anderem grundlegende Kenntnisse in Statistik und Wissenschaftsgeschichte vermittelt. Zudem besucht jeder Studienanfänger ein Projekt zum Thema Nachhaltigkeit. Mehr als 70 Projekte für jeweils 25 Studierende gibt es. Immer fünf Studierende aus unterschiedlichen Fächern bilden im Verlaufe des Semesters eine Kleingruppe und wählen einen eigenen Schwerpunkt aus dem Projektoberthema, den sie selbstständig bearbeiten. Ihre Analysen und Lösungsvorschläge präsentieren sie zum Semesterende während der öffentlichen Konferenzwoche in Seminaren, Workshops und auf der Konferenzmeile.

Im Projektseminar „Zivilgesellschaftliche Beteiligung bei der Entwicklung eines verbesserten ÖPNV-Systems für Lüneburg“ haben sich fünf Studierende mit der nächtlichen Mobilität an ihrem 70.000 Einwohner zählenden Studienort auseinandergesetzt, in dem nach 21 Uhr kein Bus mehr fährt. Sie haben 100 Passanten zu ihren Wünschen befragt, auf dieser Grundlage eigene Vorschläge wie ein Nachttaxi für Frauen oder die Verlängerung der Busfahrzeiten entwickelt und diese Ideen den lokalen Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft präsentiert. Bei denen hieß es nur: zu teuer. „Unsere Maßnahmen sind nicht umsetzbar, solange Stakeholder gewinnorientiert arbeiten. Es ist letztlich eine politische Frage, ob man das Grundbedürfnis auf Mobilität mit öffentlichen Zuschüssen sichern will oder nicht“, lautet das Fazit von Dirk-Michael Schulte, nachdem er und seine Kommilitonen ihre Ergebnisse vor rund 50 Zuhörern vorgestellt und diskutiert haben.

Die Umweltwissenschaftlerin Anja Humburg leitet als Dozentin das Projektseminar „Nachhaltigkeit jenseits des Wirtschaftswachstums“. Auf der Konferenzwoche präsentieren Untergruppen dieses Seminars ihre Ergebnisse – zum Beispiel Interviews mit Unternehmern über eine Postwachstumsgesellschaft. Humburg ist positiv überrascht über das studentische Interesse: „Ich erlebe dabei eine große Offenheit für andere Sicht- und Herangehensweisen. Das hat auch damit zu tun, dass die Erstsemester durch ihr Hauptfach noch nicht so geprägt sind. Die Studierenden sind sehr selbstständig und unbefangen. Die meisten sind in den Gruppenarbeiten sehr engagiert, und wenn jemand nicht so mitmacht, wird das angesprochen. Auch diese Erfahrung, wie man Konflikte lösen kann, ist für alle Beteiligten wichtig.“

Harald Welzer, Sozialpsychologe und Autor des Buchs „Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird“, gehört zu den zahlreichen prominenten Gästen der Konferenzwoche, die mit den Studierenden diskutieren. Er ist voll des Lobes über das Konzept: „Ich finde es sehr gut, dass in Lüneburg die Nachhaltigkeit eine zentrale Rolle spielt – das ist eine zentrale Frage für das Überleben der Menschheit, mit der sich jeder Studierende auseinander setzen sollte. Leider verliert eine umfassende Bildung an den Unis immer mehr an Bedeutung.“ Dieses Modell ist bei Studierenden allerdings nicht unumstritten.

„Ich finde den Schwerpunkt Nachhaltigkeit gut, aber es gibt auch viele Kommilitonen, die können das Wort nicht mehr hören. Es wäre besser, dieses Thema gleichmäßig über das komplette Studium zu verteilen“, findet Jennifer Krützfeldt, die Umweltwissenschaften studiert. Bei aller Kritik: Wen man auch fragt, alle finden es gut, ihren Horizont über ihr eigenes Fachgebiet hinaus zu erweitern, an konkreten Problemen zu arbeiten und viele Kontakte zu Studierenden anderer Fächer knüpfen zu können.

Vor fünf Jahren, als die Uni Lüneburg mit dem verbindlichen Studium Generale für alle Erstsemester startete, gab es zunächst erheblichen Widerstand vonseiten der Lehrenden, die befürchteten, dass ihr Stoff zu kurz kommt. „Die Kritiker werden weniger, aber es gibt sie noch“, sagt Gerd Michelsen, Professor für Umwelt- und Nachhaltigkeitskommunikation und Initiator des Studienmodells.

Fragen entwickeln und fächerübergreifend bearbeiten, Lösungen öffentlich vorstellen und diskutieren, durch Gastreferenten neue Anstöße bekommen – Michelsen nennt einige Gründe für das besondere Konzept, das aus seiner Sicht erfolgreich ist: „Insgesamt steigt durch diese Erfahrung die Selbstständigkeit und die Motivation für das Studium.“