: Herr Michalek und sein Herz
AUSSETZER Die Klappe schließt nicht mehr richtig, sagen die Ärzte. Ein kleiner Clip kann das lösen, sagen sie – ein neuer Clip. Er glaubt ihnen
■ Das Problem: Krankenkassen verlieren wegen Korruption, Abrechnungsbetrug oder Falschabrechnung europaweit zwischen 3 und 10 Prozent der jeweiligen jährlichen Gesundheitsausgaben, schätzt die Organisation European Healthcare Fraud and Corruption. Für Deutschland wäre das ein Verlust von 5 bis 18 Milliarden Euro im Jahr.
■ Der Schaden: Die deutschen Krankenkassen haben 2010 und 2011 rund 53.000 Verdachtsfälle von Betrug und Fehlverhalten verfolgt, meist Abrechnungsbetrug. In 2.600 Fällen ermittelte die Staatsanwaltschaft. Die Kassen setzten Schadenersatzforderungen von 41,4 Millionen Euro durch.
■ Die Rechtslage: Speziell für niedergelassene Ärzte hat der Bundesgerichtshof 2012 entschieden, dass Korruption nach geltendem Recht nicht strafbar ist – etwa die Annahme von Zuwendungen für die Verordnung bestimmter Arzneimittel.
■ Die Politik: Als Reaktion erwägt Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr, FDP, eine Gesetzesänderung. Ein Gutachten soll klären, welche Änderungen in den bestehenden Straf- und Bußgeldnormen und den berufsrechtlichen Regelungen notwendig sind. SPD und Grüne fordern eine Verschärfung des Strafrechts und Berufsverbote für korrupte Ärzte. Die CDU will regelmäßige Korruptionsberichte, die Linkspartei betrügerische Ärzte im Internet outen. Die Bundesärztekammer findet, ein Gesetz dürfe nicht einzig für Ärzte gelten, sondern für alle Freiberufler.
VON HEIKE HAARHOFF
Im Herbst 2009 muss Robert Michalek seinen Lkw-Führerschein verlängern lassen. Augenärztliche Untersuchung, Gesundheitscheck beim Hausarzt. Reine Routine, denkt er. Im März ist er 50 geworden, er fühlt sich blendend, sein Chef hat ihm kürzlich eine Beförderung in Aussicht gestellt.
Ein Rauschen, sagt der Hausarzt, als er den Rücken abhört. Irgendwas stimmt nicht. Da solle besser mal ein Herzspezialist draufschauen.
Robert Michalek lebt mit seiner Frau in einem Einfamilienhaus in Obergriesbach bei Augsburg, die Terrasse hat er zum Wintergarten umgebaut, Panoramafenster, gefliester Fußboden. Bis zum Wald sind es fünf Minuten, dort fährt er nach Feierabend seine Touren, 15, 20 Kilometer mit dem Rad. Bei der Renk AG in Augsburg überwacht er als Vorarbeiter die Produktion von Antriebssträngen für Windenergieanlagen.
Er macht sich keine Sorgen. Wird er eben sein Herz checken lassen.
Schluckechokardiografie, Ultraschall. Der Kardiologe guckt ernst. Das müsse behandelt werden, am besten bei denen, die ihr Handwerk verstünden: am Deutschen Herzzentrum München, nur 50 Kilometer entfernt.
„Symptomatische Mitralklappeninsuffizienz Grad III“, so steht es dort später in Michaleks Krankenakte.
Robert Michalek hat Ende 2009 keinerlei Beschwerden. Es fällt ihm nicht leicht zu glauben, erinnert er sich, was Hausarzt und Kardiologe ihm nun eröffnen: Eine seiner Herzklappen schließe nicht mehr richtig. Er, Robert Michalek, geboren am 26. 3. 1959, 176 Zentimeter groß, 88 Kilo schwer, besitze wie jeder Mensch vier Herzklappen. Zwei an der rechten Herzhälfte, Trikuspidalklappe und Pulmonalklappe, zwei an der linken, Mitralklappe und Aortenklappe. Das Herz pumpt das Blut durch den Körper, erklären ihm die Ärzte, und die Herzklappen wiederum sorgen wie Ventile dafür, dass es nur in einer Richtung fließt.
Robert Michaleks Mitralklappe, zuständig dafür, dass sauerstoffreiches Blut aus der Lunge in die linke Herzkammer strömen kann, ist undicht, Insuffizienz Grad III, viel schlechter geht kaum, bei Grad IV hören Ärzte auf zu zählen.
Und das, soviel versteht Michalek sofort, ist schlecht. Blut kann sich so in der Lunge aufstauen. Er könnte Luftnot bekommen. Und wenn es ganz schlimm kommt, dann wird das Herz eines Tages so schwach, dass es nicht mehr in der Lage ist, genug Blut durch den Körper zu pumpen. Sense, aus.
Robert Michalek beschließt, vielleicht doch zu den Spezialisten nach München zu gehen. Das Deutsche Herzzentrum gehört zu den Vorzeigeprojekten des Freistaates Bayern: Kardiologen, Herzchirurgen, Kinderherzspezialisten – alle unter einem Dach.
„Man ist da zuversichtlich hingegangen.“ Robert Michalek sitzt in seinem Esszimmer, ein Samstag im Januar 2013. „Sie sagten, es gehe relativ zügig, und es gehe einem schnell wieder besser.“ Er ist ein Mann mit fast weißem Haar und einer bemerkenswerten Großzügigkeit in der Stimme, wenn er erzählt. Von seiner Hoffnung auf Heilung. Und wie dann alles anders kam.
Er hat zwei Herzklappen verloren, von denen eine gar nicht geschädigt war. Seine Herz-Leistungs-Fähigkeit: vermindert. Seine Lebenserwartung: reduziert.
Dabei sollte dieser winzige Clip, dieses technische Versprechen, das sie ihm eingesetzt haben, doch eigentlich helfen.
„Der ist da gesund hingegangen und krank zurückgekommen“, sagt seine Frau Heidemarie Höss.
Es ist die Frage, ob das, was Robert Michalek passiert ist, häufiger geschieht im deutschen Gesundheitssystem. Ob Ärzte, die kurieren sollten, neue Techniken ausprobieren, weil sie finanziell von Medizinfirmen gefördert werden. Ob sie Fallzahlen auch deswegen generieren, um dem ökonomischen Druck ihrer Verwaltungsdirektoren standzuhalten. Ob Ärzte Studienergebnisse und Karriere im Blick haben – und weniger die Patienten. Es ist die Frage, ob das System Fehler hat, die genau das zulassen, vielleicht sogar fördern. Kann es sein, dass die Medizin gerade systematisch verlernt zu heilen?
Draußen in Obergriesbach peitscht an diesem Januarsamstag der Regen, und drinnen, am Holztisch, sortieren Robert Michalek und seine Frau Laborwerte, Untersuchungsbefunde, Arztbriefe, Implantatepässe. Sie versuchen, die vergangenen drei Jahre zu rekonstruieren. Was ist schiefgelaufen?
Die Mitralklappeninsuffizienz ist der zweithäufigste Herzklappenfehler bei Erwachsenen in Westeuropa und den USA. Manchmal von einer Krankheit am Herzen ausgelöst, manchmal ist es ein Geburtsfehler. Die Anzahl der Neuerkrankungen steigt mit dem Lebensalter.
Allein zwischen den Jahren 2008 und 2010 nahmen laut Deutschem Herzbericht die Herzklappenkrankheiten um 12,4 Prozent zu. Mit den Fällen wächst die Zahl der Therapiemöglichkeiten: Wer als Arzt die Lizenz zur Behandlung der Mitralklappeninsuffizienz besitzt, der muss sich um seine wirtschaftliche Zukunft kaum Sorgen machen.
Wenn die Klappe nur ein wenig undicht ist, genügt oft eine Behandlung mit Medikamenten. In schlimmeren Fällen ist der „Goldstandard“ laut der Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie die chirurgische Rekonstruktion der Mitralklappe. Empirisch ist nachgewiesen: Die Therapie wirkt.
Chirurgen nähen Sehnenfäden ein oder schneiden überflüssiges Material heraus und können die Klappe so oft wieder komplett funktionstauglich machen. Die Patienten derart „herzgesund“ zu entlassen, erreicht die herzchirurgische Operation laut Deutschem Herzbericht in 65,1 Prozent der Fälle. Bei den übrigen Patienten muss eine künstliche Klappe eingesetzt werden.
Erfahrungen mit der Operation gibt es seit mehr als 30 Jahren an weltweit mehr als einer Million Patienten. Die Sterblichkeitsrate liegt in den ersten sechs Monaten nach dem Eingriff bei weniger als 2 Prozent. Danach: keine Unterschiede zur Sterblichkeitsrate gesunder Menschen.
Und doch hat die herzchirurgische Operation aus Sicht vieler Kardiologen einen riesigen Nachteil: Sie ist Sache der Herzchirurgen. Seit Jahren suchen die Kardiologen deshalb nach alternativen Therapien, die auch sie anbieten dürfen.
Kardiologen sind Internisten. Sie tasten, horchen, messen, aber sie operieren nicht am offenen Herzen – wie ihre Kollegen: die Chirurgen.
Mit dem MitraClip kommen auch die Kardiologen ans Herz. Es geht nicht bloß um das viele Geld, das sich mit den Klappenbehandlungen verdienen lässt. Es geht um Macht, um Deutungshoheit.
All das weiß Robert Michalek nicht, als er sich im Februar 2010 bei den Kardiologen am Deutschen Herzzentrum vorstellt. Und er wird es auch nicht erfahren, jedenfalls kann er sich nicht an Gesprächssituationen erinnern, von denen die Ärzte heute, drei Jahre später, sagen, sie hätten selbstverständlich stattgefunden: „Ausführlich“ und „explizit“ hätten sie ihn aufgeklärt und darauf hingewiesen, dass es eine Standardtherapie gibt, nach der Leitlinie empfohlen für Männer wie ihn: Männer ohne Begleiterkrankungen und ohne erhöhtes Operationsrisiko. Allein: Der Patient habe einen solchen Eingriff nicht gewollt.
Robert Michalek wird nicht von einem Chirurgen operiert. Nicht in jenem Februar 2010. Und nicht im April 2010, als klar sein dürfte, dass die Alternativbehandlung fehlgeschlagen ist.
„Es ist 2010 immer nur um diesen Clip gegangen“, sagt Robert Michalek am Esszimmertisch in Obergriesbach. „Die Ärzte in München sagten, es gebe da eine ganz neue Methode, sehr schonend, ohne dass man den ganzen Brustkorb aufschneiden und an die Herz-Lungen-Maschine müsste, und dass sie da eine Studie hätten, an der ich teilnehmen dürfte.“
Der Clip heißt MitraClip und ist eine Klemme aus Stahl, ähnlich einer Wäscheklammer, ein Zentimeter lang. Mit einem Katheter wird er über die Leiste und durch eine Vene bis zur Mitralklappe geschoben. Dort soll er die beiden Segel der Mitralklappe etwa in der Mitte zusammenklammern.
Der Fehler wird behoben – allerdings nur punktuell. Rechts und links des Clips klaffen weiter undichte Stellen.
Die Kardiologen stehen jetzt vor der Entscheidung: Verlieren sie Robert Michalek, wie es sich gehört, an die Chirurgen? Oder erzählen sie ihm zumindest mal von ihrem Wunderclip?
„Um es klar zu sagen: Die Operation ist in der Regel kurativ, also heilend, und der Clip ist meist nur palliativ, lindernd“, sagt Friedrich Mohr, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie.
Das MitraClip-Verfahren ist neu und wenig erforscht. In den USA darf der Clip nur unter strenger wissenschaftlicher Kontrolle eingesetzt werden. In Europa, wo die Marktzulassung von Medizinprodukten wie Hüftprothesen oder Brustimplantaten laxer gehandhabt wird, ist der Clip seit 2008 verfügbar – und wird als neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Wenngleich nur, wie Kardiologen beklagen, in Höhe der Materialkosten.
Allein die liegen bei rund 20.000 Euro pro Clip. Zum Vergleich: Die Herzoperation wird mit insgesamt 12.000 bis 15.000 Euro vergütet. Je mehr Erfahrung es mit dem Clip gibt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass die Kassen ihm demnächst eine eigene, kostendeckende Fallpauschale zuweisen werden. Für Kliniken ist das ein Anreiz.
Das Gesundheitswesen belohnt nicht den klugen Einsatz von Ressourcen. Es belohnt Menge und Masse. Ärzte und Kliniken geraten so in Versuchung, ihre Behandlungszahlen aus ökonomischen Gründen zu steigern. Die Zahl der Patienten lässt sich nicht beliebig erhöhen, wohl aber die der Entscheidungen für eine bestimmte Therapie.
Eingesetzt werden soll der Clip bei Patienten, die ansonsten womöglich gar nicht behandelt werden könnten, weil sie als nicht operabel gelten. Dies bestätigt auch die US-Firma Abbott, Herstellerin des MitraClips mit Dependance im hessischen Wiesbaden, schriftlich gegenüber der sonntaz: „Patienten, für die MitraClip infrage kommt, sind in der Regel sehr krank und betagt.“ Und: „Die Patienten haben typischerweise ein hohes Sterberisiko bei einer herkömmlichen Operation.“
Michalek hat Vertrauen. Er liest nicht allzu genau
Robert Michalek ist Techniker, ein Mann mit Respekt vor Innovation. Er vertraut seinen Ärzten: „Sie haben keinen Zweifel daran gelassen, dass der Clip für mich das Beste wäre.“ Vielleicht liest er deshalb die vierseitige Patienteninformation, die ihm am 16. Februar 2010 von Kardiologen am Deutschen Herzzentrum ausgehändigt wird, nur flüchtig. Dort steht über den Clip: „Das System wurde bei ca. 500 bis 600 Patienten weltweit bereits eingesetzt [Stand Sommer 2009].“ Heißt so viel wie: Wir haben hier ein spannendes Experiment, aber seinen Nutzen belegen können wir leider nicht.
Auch ein Risiko wird da benannt: Der Clip könne sich lösen, Arterien verschließen und so einen Schlaganfall bewirken.
Robert Michalek ist ein Patient, wie es vermutlich viele gibt. Für ihn gilt der Handschlag seines Arztes mehr als ein schriftlicher Vertrag, und vielleicht auch deshalb liest er darüber hinweg, dass in der Patienteninformation erwähnt wird, dass die Standardbehandlung die herzchirurgische Klappenrekonstruktion ist. Andererseits steht dort auch: „Bei Ihnen wurde das Risiko für einen derartigen herzchirurgischen Eingriff als zu hoch angesehen.“ Dann, so denkt sich das Robert Michalek, wird der Clip erst recht das Richtige sein.
Die Leerzeile, die auf den Satz „Gründe hierfür sind bei Ihnen u. a.:“ folgt, ist unausgefüllt. So ehrlich immerhin sind die Ärzte, die Robert Michalek das Wagnis MitraClip empfehlen: Es gibt keinen medizinischen Grund, ihn nicht nach dem Standardverfahren zu behandeln. Es gibt keinen medizinischen Grund, ihm die bestmögliche Therapie vorzuenthalten.
Es gibt andere Gründe.
Am 17. Februar 2010 wird ihm der erste Clip eingepflanzt. „Ich dachte, jetzt ist alles gut“, sagt Michalek.
Am Deutschen Herzzentrum wird er ab Februar 2010 geführt unter der Nummer M34042349. Er nimmt teil an einer „Beobachtungsuntersuchung der Behandlung einer Mitralklappeninsuffizienz durch das Mitralklappen-Clip-System MitraClip“. Sponsor der Untersuchung, genannt Acces-Studie, ist die Firma Abbott, die Herstellerin des MitraClips. Die Patientenaufklärung erwähnt die Beteiligung der Industrie nicht.
Abbott ist ein internationaler Gesundheitskonzern mit 70.000 Mitarbeitern, Jahresumsatz 2011: 38,9 Milliarden Dollar. Es sind Konzerne wie Abbott, die dank ihres Kapitals medizinischen Fortschritt ermöglichen. Das verschafft ihnen Einfluss – was wird erforscht, was nicht. Zugleich sind Unternehmen wie Abbott auf Untersuchungen, Daten, Statistiken angewiesen, wollen sie ihr Produkt eines Tages im großen Stil vermarkten. Statistiken generiert, wer über die Patienten verfügt: die Ärzte.
Heilen steigert ja nicht den Marktwert eines Arztes
Abbott zahlt Kliniken, die an der MitraClip-Studie teilnehmen, 600 Euro pro Patient. Dafür verpflichten sich die Kliniken, die Patienten mit den Clips binnen einem Jahr dreimal zu untersuchen und die Ergebnisse zu dokumentieren. So jedenfalls erzählt es für seine Klinik Wolfgang Schillinger, Professor für Kardiologie an der Uniklinik Göttingen und als „principle investigator“ der Abbott-Studie ein Mann mit gutem Überblick über die Zahlen. 600 Euro pro Patient sind kein Vermögen. Aber wer Daten erhebt, der kann diese auch für seine eigene wissenschaftliche Karriere nutzen, der kann forschen und publizieren.
Expertenwissen ist Herrschaftswissen, gerade in der streng hierarchisierten Universitätsmedizin. Der Marktwert eines Arztes bemisst sich ja nicht etwa daran, wie viele seiner Patienten nach zehn Jahren noch leben oder wie viele unnötige Therapien er ihnen erspart hat. Er bemisst sich am Grad seiner Spezialisierung und dem Nachweis, dass eben diese Spezialisierung der Klinik ökonomische Vorteile bringt. Was zählt, ist Außenwirkung, Prestige.
Im März 2010, nur wenige Wochen nach der Operation, geht bei Robert Michalek gar nichts mehr. „Er kam aus dem Keller hoch und hat praktisch nur noch geschnauft“, erinnert sich seine Frau. Krankenakte Robert Michalek, Eintrag vom 11. April 2010: „Bis zur Kontrolle am 25. 3. 2010 berichtete der Patient über zunehmende Atemnot bei ca. 2 Etagen Treppensteigen, ein leichtes Druckgefühl und allgemeines Schwächegefühl.“ Ultraschall, Echokardiografie: Der Clip hat sich gelöst. Die Insuffizienz ist jetzt noch schlechter als vor Therapiebeginn – Grad IV.
In der Leitlinie der Kardiologen steht, dass über eingreifende Therapien bei herzkranken Patienten ein Herzteam aus Kardiologen und Herzchirurgen gemeinsam entscheiden soll. Doch Leitlinien sind stets bloß Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften. Verstöße werden nicht sanktioniert. Am Deutschen Herzzentrum arbeiten Kardiologen und Herzchirurgen räumlich nah beieinander. Ideologisch trennen sie Welten.
Die Kardiologen behandeln den Patienten Robert Michalek allein weiter.
„Das Problem ist kein spezifisch münchnerisches“, sagt Thomas Meinertz, Vorsitzender der Deutschen Herzstiftung. „Die Kardiologen agieren weltweit wie Gatekeeper. Sie sehen die Patienten zuerst und können sie dann in eine bestimmte Richtung lenken.“ Für Robert Michalek wählen sie die Richtung: erneutes Clipping. Und dieses, so werden sie sich drei Jahre später rechtfertigen, sei „der ausdrückliche, erklärte Patientenwunsch“ gewesen. Zwei weitere Klammern werden eingesetzt, zusätzlich zu der ersten, gelösten. Diese verbleibt ebenfalls im Körper. Robert Michalek trägt jetzt drei Implantatepässe bei sich, Seriennummern 091123A03-10, 1001150302 und 1002200108.
Für die Kardiologen bedeutet jeder zusätzliche Clip: mehr Fallzahlen, mehr Erfahrung, mehr Geld. Bei etwa jedem dritten Patienten, sagt der Göttinger MitraClip-Experte Wolfgang Schillinger, würden mittlerweile zwei Clips gesetzt – natürlich nur, weil es medizinisch geboten sei.
Ein verpflichtendes Register, dem Kliniken Anzahl, Verläufe und Langzeitwirkungen des MitraClips melden müssten, existiert in Deutschland nicht: „Uns liegen keine Zahlen vor, wie viele derartige MitraClip-Operationen im Bundesgebiet durchgeführt werden“, kritisiert Friedrich Mohr, der Präsident der Herzchirurgen. „Wir können leider auch nicht sicherstellen, dass diese Prozeduren jeweils im Einvernehmen mit einem Herzchirurgen geplant wurden.“
Der MitraClip ist keine Ausnahme: Egal ob Hüftprothesen oder Herzschrittmacher, für Medizinprodukte existieren in der EU weder staatliche Zulassungsverfahren noch besonders strenge Überwachungsmechanismen. Das liegt auch daran, dass man oft nicht genau weiß, wie viele wem wo überhaupt eingesetzt werden.
Am 7. April 2010, keine zwei Monate nach dem ersten Eingriff, bekommt Robert Michalek am Deutschen Herzzentrum München wieder eine Vollnarkose: „Keine relevanten Probleme bzgl. erneuten Clippings erkennbar“, vermerkt die Krankenakte. Und wie zur Absicherung, dass diese Entscheidung mit Segen von ganz oben getroffen wurde: „OA Hausleiter vidit“.
Der Oberarzt Jörg Hausleiter leitet 2010 die Kardiologische Intensivstation am Deutschen Herzzentrum. Er gehört zu den erfahrensten Kardiologen im Umgang mit dem MitraClip. Inzwischen, seit Oktober 2012, ist er mit einigen Kollegen, darunter dem Kardiologie-Professor Steffen Massberg, ans Klinikum der Universität München gewechselt – Karrieresprünge inklusive: Massberg ist jetzt Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik I, Hausleiter sein Stellvertreter und Leitender Oberarzt.
Dann hält Michalek es nicht mehr aus
Ein persönliches Gespräch mit der sonntaz lehnen Hausleiter und Massberg ab. Stattdessen eine neunseitige, schriftliche Stellungnahme. Sie charakterisiert Robert Michalek als Prototyp des aufgeklärten, mündigen Patienten, der mit seinem Kardiologen auf Augenhöhe debattiert und am Ende dem Arzt vorgibt, was der zu tun habe: „In Kenntnis der unterschiedlichen Behandlungsmethoden“ habe Michalek von seinem „Selbstbestimmungsrecht“ Gebrauch gemacht und sich beim ersten wie beim zweiten Mal für das Clipping entschieden: „Die Erfahrung, dass Patienten in vielen Fällen vor einer erforderlichen herzchirurgischen Operation zurückschrecken, auch wenn diese dem Therapiestandard entspricht, deckt sich im Übrigen mit der klinischen Realität.“ Ärzte als Dienstleister, bar jeder Verantwortung? Zum Zeitpunkt des Eingriffs, also 2010, schreiben Massberg und Hausleiter, sei doch noch gar nicht nachgewiesen gewesen, dass der Clip in puncto Effizienz der Operation unterlegen sei.
Sie haben sich nichts vorzuwerfen.
Fragen nach direkten oder indirekten industriellen Zuwendungen, wie sie in der Medizin gang und gäbe sind, weisen sie zurück: „Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Teilnahme am Access-Register für die an der Planung und Durchführung der Clip-Eingriffe beteiligten Ärzte mit keinerlei finanziellen Anreizen oder Vergütungen verknüpft war und ist.“ Gegenüber dem American College of Cardiology legte Hausleiter im März 2012 offen, von Abbott im Rahmen eines „Speaker’s Bureau“ Geld erhalten zu haben, Kategorie „Modest“, in Zahlen: unter 10.000 US-Dollar.
Die Firma Abbott teilt mit: „Das Deutsche Herzzentrum erhielt, wie bei allen klinischen Studien üblich, eine Standardvergütung für alle Aktivitäten, die mit dem Sammeln und Übermitteln der Daten […] in Verbindung stehen.“ Abbott kooperiere mit Krankenhäusern und Universitäten in der ganzen Welt, um die Entwicklung von klinischen Studien zu neuen Produkten und Therapien voranzutreiben: „Abbott hat in 2012 über alle Geschäftsbereiche 4,3 Milliarden US-Dollar für Forschung und Entwicklung ausgegeben.“
Robert Michalek fühlt sich nach dem erneuten Clipping im April 2010 besser. „Kurzfristig jedenfalls“, sagt seine Frau.
2011 werden seine Beschwerden schlimmer. Er laviert sich durch die Arbeit. Wenn er nach Hause kommt, sind seine Kräfte oft aufgezehrt. Kontrolluntersuchung am Deutschen Herzzentrum, 13. April 2011, der Oberarzt Hausleiter schreibt: „Erst bei stärkeren körperlichen Anstrengungen wird vermehrte Atemnot verspürt.“
Jetzt, knapp eineinhalb Jahre nach der Diagnose, wird überlegt, ob Robert Michalek möglicherweise doch operiert werden sollte: „Mit dem Patienten wurde die grundsätzlich bestehende Option einer chirurgischen Rekonstruktion bzw. eines Klappenersatzes besprochen, jedoch sehen wir derzeit aufgrund der weitgehenden Beschwerdefreiheit […] noch keine Indikation.“
Was Robert Michalek nicht weiß: Je später er sich operieren lässt, desto schlechter sind seine Chancen, dass die Mitralklappe noch zu reparieren ist.
Für die Erfolgsstatistik der MitraClip-Studie dagegen ist jeder Monat, den er wartet, ein Glücksfall. Denn die Studie erfasst etwaige Problematiken nur im ersten Jahr nach dem Eingriff. Wolfgang Schillinger, der Göttinger „principle investigator“, berichtet stolz: „6,3 Prozent der Patienten aus der Access-Studie mussten innerhalb eines Jahres sekundär nachoperiert werden.“ Nach dieser Lesart ist Robert Michalek ein Patient, der vom Clip profitiert hat.
■ Die Technik: Medizinische Erfindungen können Leben retten, zum Beispiel Röntgenbilder oder Lasergeräte.
■ Die Kontrolle: Neue Medizinprodukte werden in Deutschland allerdings nicht besonders streng kontrolliert. Vor allem sollen sie technisch funktionieren. Das, monieren Kritiker, heißt aber lange nicht, dass sie nicht schaden könnten. Manchmal entsteht der Eindruck, Patientinnen würden zu Versuchskaninchen.
■ Die Frage: Haben Sie sich auch schon einmal so gefühlt? Haben Sie Ähnliches wie Robert Michalek erlebt? Schreiben Sie uns: open@taz.de
Tatsächlich dürfte die Zahl der Patienten, deren Beschwerden durch das Clipping so unzureichend gelindert werden, dass sie nachoperiert werden müssen, langfristig höher liegen: Ein Jahr nach dem Clipping, das fand 2011 die Everest-Studie mit 279 Patienten aus den USA und Kanada heraus, musste jeder fünfte Clip-Patient wegen zu geringer Effizienz im Nachhinein herzchirurgisch behandelt werden. Auch diese Studie wurde von Abbott finanziert.
Man muss sich das auch einmal aus Sicht der Kassen vorstellen: Erst bezahlen sie den Clip, dann auch noch die Operation.
Anfang 2012, zwei Jahre nach seinem ersten Clip, hält Robert Michalek es nicht mehr aus. Erneute Überweisung ins Deutsche Herzzentrum. 23. Februar 2012, Eintrag der Kardiologen: „Aktuell berichtet der Patient über Atemnot bei leichter körperlicher Belastung. Beim Treppensteigen müsse er bereits nach einer Etage stehen bleiben […]. Die Beschwerden bestünden seit Dezember 2011 und hätten sich in den letzten Wochen verschlimmert.“
Im Frühjahr 2012 sieht Robert Michalek erstmals einen Herzchirurgen. Rüdiger Lange, Direktor der Klinik für Herz- und Gefäßchirurgie am Deutschen Herzzentrum München, empfiehlt mit Schreiben vom 17. April 2012, was mehr als zwei Jahre zuvor auch schon hätte passieren können: „Wir haben die Aufnahme am 11. 6. 2012 um 9.30 Uhr auf Station 1.2 vorgesehen. Die Operation ist für den folgenden Werktag geplant.“
Ist Robert Michalek ein bedauerlicher Einzelfall? Am Telefon im Januar 2013 atmet Rüdiger Lange, der Chirurg, vernehmbar durch, bevor er antwortet: „Wir haben einige Patienten nachoperiert“, sagt er dann, „und das sehr Ärgerliche ist, dass man die Klappe in der Regel nicht mehr erhalten kann, wenn man erst nach einigen Monaten nachoperiert.“ Die Clips seien dann bereits zu sehr mit dem Klappengewebe verwachsen, als dass nach dem Herausschneiden noch eine Rekonstruktion möglich sei. „Ich kann Ihnen aber keine Prozentzahlen sagen, weil wir niemals von der Kardiologie Zahlen genannt bekommen haben, wie viele Clips überhaupt implantiert worden sind.“
Die Kardiologen scheinen nicht mit den Chirurgen reden zu wollen. Aber wäre das nicht eine Grundvoraussetzung, um heilen zu können?
Lange und einige seiner Chirurgenkollegen am Deutschen Herzzentrum versuchen trotzdem zu ermitteln, was die Chirurgie überhaupt noch ausrichten kann, wenn Patienten nachoperiert werden müssen. Zwischen März 2010 und Dezember 2011 werden ihnen elf Clip-Patienten mit schwerer bis schwerster Mitralklappeninsuffizienz zugewiesen. Das Ergebnis: Bei sieben Patienten kann die Mitralklappe nicht repariert werden. Sie muss ersetzt werden. Und: Alle Patienten sind operabel. Warum sind sie dann nicht gleich operiert worden?
Lange und seine Kollegen finden, dass die Fachöffentlichkeit davon erfahren sollte. Ihr Aufsatz ist seit Monaten fertig. Doch die Publikation wird von wissenschaftlichen Zeitschriften abgelehnt – die Zahlen seien ohne Angaben über die Gesamtzahl der Patienten nicht aussagekräftig. „Das stimmt ja auch“, sagt Lange, „es ist ein Unterschied, ob ich sage, es sind 11 von 30 oder 11 von 1.000 Patienten.“
Der sonntaz teilen Hausleiter und Massberg mit: „Über einen Zeitraum von Ende 2009 bis Sommer 2012 wurden am Deutschen Herzzentrum München mehr als 150 Patienten mit einem Mitralklappen-Clip versorgt.“ Weniger als 20 Prozent von ihnen hätten nachoperiert werden müssen, und von denen wiederum habe bei jedem zweiten die Mitralklappe erhalten werden können.
Man kann diese Zahlen alarmierend finden. Schlechter als die internationalen Ergebnisse sind sie nicht. Und allein darauf kommt es an – karrieretechnisch betrachtet.
Neben Michaleks Bericht liegen der sonntaz Schilderungen von sechs weiteren Patienten vor, die zwischen 2010 und 2011 dem Clipping am Deutschen Herzzentrum zustimmten und anschließend nachoperiert werden mussten. Bei dreien konnte die Mitralklappe rekonstruiert werden.
Robert Michalek will im Frühjahr 2012 nur noch eins: endlich wieder normal atmen. Die Chirurgen am Deutschen Herzzentrum klären ihn auf: Es könne sein, dass sie seine Mitralklappe nicht retten könnten. Für diesen Fall will Robert Michalek eine biologische Klappe, von einem Rind etwa. Wenn er eine aus Metall nähme, müsste er die ganze Zeit blutverdünnende Medikamente schlucken.
Am Deutschen Herzzentrum rät man ihm dennoch zu einer mechanischen Klappe, die halte länger.
Die zweite Klappe auch kaputt? Er denkt, er träumt
Robert Michalek holt eine Zweitmeinung ein an der Uniklinik München. Er beschließt, dort zu bleiben. Nun wird die Operation für den 19. Juli 2012 angesetzt, Campus Großhadern, Herzchirurgie.
Am Esstisch in Obergriesbach verschränkt Heidemarie Höss die Arme. „Sie hatten morgens angefangen und gesagt, es würde schon ein paar Stunden dauern.“ Es wird Mittag an jenem 19. Juli, Heidemarie Höss erinnert sich noch gut, dieses Warten auf den erlösenden Anruf, wie sie sich sorgt und dann wieder hofft, dass sie ihr bestimmt gleich sagen, alles okay, Ihr Mann ist wach, bitte kommen Sie vorbei. Es wird Nachmittag, und es wird Abend. Da ruft sie in Großhadern an.
Unerwartete Komplikationen, daher die längere OP-Dauer, nichts Lebensbedrohliches, aber eben doch Komplikationen, so erzählt Heidemarie Höss von dem Telefongespräch.
Am späten Abend erfährt sie: Ihr Mann, Robert Michalek, lebt. Seine Mitralklappe habe nicht gerettet werden können, die Clips seien zu stark mit dem Gewebe verwachsen gewesen. Na gut, denkt Heidemarie Höss, davon sind wir ausgegangen. Aber da sei noch etwas, sagt der Arzt aus Großhadern: Eine weitere Herzklappe, die angrenzende Aortenklappe, habe ebenfalls durch eine biologische Klappe aus Rindergewebe ersetzt werden müssen.
Die Aortenklappe? Ihr Mann war doch nie an der Aortenklappe erkrankt gewesen.
Operationsbericht Campus Großhadern, Herzchirurgie, 19. Juli 2012: „Bei dem Versuch, eine saubere Trennung der fusionierten Gewebe durchzuführen, entsteht eine Verletzung der akoronaren Klappentasche.“ Diese verletzte Tasche gehört zur Aortenklappe.
Als er aufgewacht sei, sagt Michalek, da habe er nur einen Arzt im grünen Kittel gesehen, der ihm weiszumachen versucht habe, er, Robert Michalek, habe nicht bloß die eine, sondern zwei von vier Herzklappen verloren.
Schmarrn, hat Michalek gedacht, was für ein Delirium so eine Narkose doch auslösen kann.
Er hat sich selbst immer noch mehr misstraut als den Ärzten.
■ Heike Haarhoff, 43, ist Gesundheitsredakteurin der taz