eiszeit : Tiefgefrorenes Trampolin
Warum die Eisschnellläufer in dieser Saison Weltrekorde sonder Zahl brechen
Die Saison der Eisschnellläufer ist jung. Dennoch wurden bereits 13 Weltrekorde aufgestellt. Dreizehn. Auch diese Zahl markiert einen Rekord – jedenfalls zu diesem frühen Zeitpunkt; der Winter beginnt ja erst. Kaum hat eine Bestzeit Eintrag in die Rekordlisten gefunden, muss auch schon eine neue notiert werden. Was hat es auf sich mit dieser Entwicklung, die getrost unter dem Begriff „Leistungsexplosion“ rubriziert werden darf? Wieso gleiten die Eissprinter von Anni Friesinger bis Shani Davis (USA), von Cindy Klassen (Kanada) bis Chad Hedrick (USA) in diesem Herbst derart schnell übers Eis? Geht da alles mit rechten Dingen zu? Liegt es am Material, am Eis, an den nahenden Olympischen Spielen in Turin, an gewissen anderen Dingen?
Die Gilde der Gleiter beschäftigt sich zunächst sehr gern mit der Beschaffenheit des Eises, wenn es darum geht, die Leistungen zu erklären. Der niederländische Trainer Gerard Kemkers sieht den kalten Grund sogar als aktives Element: „Das Eis hier ist wie ein Trampolin.“ Er meint die vermeintlich elastische Frostschicht des Ovals in Salt Lake City, wo allein am Wochenende fünf Fabelzeiten verbucht worden sind. Zuvor purzelten die Rekorde im gut 1.000 Meter hoch gelegenen Calgary. Die Luft in Salt Lake City ist noch ein bisschen dünner, die Halle dort liegt über 1.400 Meter hoch. Das Wasser ist besonders weich, die Luftfeuchtigkeit in der Arena sehr niedrig. Dem Eis werden zudem chemische Substanzen beigemischt, die unter die Geheimhaltungspflicht fallen. Demnach haben die Sprinter recht viel Spaß an der Gleitzeit im Mormonenstädtchen. „Es ist so, als ob man mit dem Eis spricht. Du gibst ihm etwas – und du bekommst etwas zurück“, berichtete der Holländer Jochem Uytdehaage einmal von innigen Zwiegesprächen mit dem kalten Element. Anni Friesinger, die sowohl in Calgary als auch in Salt Lake City Weltrekord über 1.500 Meter gelaufen ist, vermeinte, über das Eis „zu fliegen“. Sie sei auf einem derart griffigen und harten Untergrund unterwegs gewesen, dass es „wie auf Schienen“ dahingegangen sei.
Mannschaftsarzt Volker Smasal wurde nach der Rekordjagd in Kanada und den USA von einem Team der ARD um Erklärungen der Leistungssprünge gebeten. Smasal pries ausnahmsweise mal nicht die überragenden Gleiteigenschaften, er wurde grundsätzlich: „Natürlich setzt der Körper natürliche Grenzen“, so Smasal. Wo diese lägen, wisse er nicht, allerdings habe er die Vermutung, die Athleten stünden „wahrscheinlich“ kurz davor.
Die Expansion ins Land der Rekorde geht freilich weiter, ohne Rücksicht auf Grenzverläufe – gerade im olympischen Winter. Sicherlich trainieren die Athleten mit Blick auf Turin intensiver und erhöhen ihr Pensum. Bestimmt bündeln sie ihre Energien und lassen es nicht an Konsequenz mangeln. Gewiss gönnen sie sich kaum eine Pause und leben streng nach Plan. Ohne Zweifel bringen die neue Karbonschienen, die Friesinger und Co. in dünner Luft auf spiegelglattes Eis bringen, ein paar Hundertstelsekunden. Aber erklärt das allein die Beschleunigung? Und was ist von jener Mär zu halten, in der die kanadischen Eismeister und Hallenwarte die Klimaanlage angeblich als Gebläse missbraucht haben, um Cindy Klassen zum Weltrekord zu schieben?
Der Klappschlittschuh hat vor Jahren den Eisschnelllauf revolutioniert. Er ist mittlerweile ausgereift. Erprobt wird der Doppelklapp-Mechanismus, der aber noch nicht für den Einsatz im Wettkampf geeignet ist. Am Schuh kann es also nicht liegen, wenn es so rasant vorangeht, eher am kraftvollen Stil, den Quereinsteiger wie Davis und Hedrick von den Speedskatern in die Szene der Eisläufer eingebracht haben. Diese Technik ist nicht schön anzuschauen, aber schnell. Doch das ist wohl nur die halbe Wahrheit. MARKUS VÖLKER