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Archiv-Artikel

Tausche Efeu gegen Bombe

Die eisige Lust an der Gewalt und der grausame Tod eines Vernunftmenschen: An den Münchner Kammerspielen inszeniert Jossi Wieler Euripides’ „Bakchen“ filigran und erschreckend fatalistisch

VON SABINE LEUCHT

Jens Kilians Bühnenbild verrät es schon: Hier bricht gleich ein Aufstand gegen die gerade Linie los. Hier wird das Verhältnis vom dick aufgepinselten Blut am Ende zur allgegenwärtigen Weißheit des Beginns verhandelt. Hell wie jungfräulicher Schnee ist Pentheus’ Theben. Und mindestens ebenso kalt. Denn Regisseur Jossi Wieler lässt „Die Bakchen“ des Euripides nicht auf dem Platz vor dem Königspalast spielen, sondern in einem post-Meister-Proper-haften Loft, das als Ankleidezimmer, Bad und Bar fungiert. Letztere ragt wie ein dem Untergang geweihtes Schiff in den Fuß einer Woge in die linke, schwungvoll gebogene Wand hinein. Von dort her wird die brav gescheitelte Welt der Ordnung und Vernunft aus den Fugen geraten. Und hier lauert auch Wiebke Puls als stolzes, fremdes Wesen, über ihren langen Beinen hockend wie eine Spinne, das Geschehen allzeit im Blick. Nichts findet statt, was sie nicht kontrollierte. Mit Bakche Nummer zwei, der schnippisch-jungenhaften Sylvana Krappatsch, ist sie im Tross des Götter-Bastards Dionysos über Theben gekommen, dessen Kult ja bekanntlich „Orgie“ heißt. Viel wird ihm zugeschrieben: Gott des Theaters, des Weines und des Triebes, Feind der Individuation und Freund der kultischen Zerreißung soll er sein. Und auch in den „Bakchen“ schickt er seinen ungläubigen Cousin Pentheus in die Berge, wo ihn seine Mutter Agaue und die Frauen der Stadt zerfleischen.

Diese Story der unverhältnismäßigen Rachsucht ist auch an den Münchner Kammerspielen da. Alles Göttlich-Verwegene aber verweigert Robert Hunger-Bühler seinem Dionysos. Mit natürlich-schulterlangem Haar und einem dicken Ethno-Mantel spielt er den Langhans unter den Unsterblichen: nicht mächtig, nur mächtig eingebildet. Aber auf eine späthippiehafte, leicht sediert wirkende Art. Wenn er erscheint, gurgelt nur das Klo. Seinen Begleiterinnen in überkniehohen Reptilien-Stiefeln und so sexy wie sterilen Lederkostümen fasst er mechanisch an den Hintern, dann legen sie sich halt zu ihm und das lustloseste Bacchanal aller Zeiten ist angerichtet.

Denn Taumelnde, Rasende oder Verzückte sind auch die schönen Bakchen nicht. Sie geben den Ton an, haben aber nicht mehr viel zu sagen, weil man in München einen Großteil der Chorpassagen aus Kurt Steinmanns nüchterner Neuübersetzung gestrichen hat. Doch es bleiben der Schauspielerin des Jahres 2004 Wiebke Puls und ihrer nicht minder begnadeten Kollegin einige fast synchrone Gänge, wissende Blicke und lässig-kontrollierte (Insekten-)Posen: Jede von ihnen eine Großeinstellung wert.

Seit mehr als 20 Jahren macht der 54-jährige Schweizer Wieler nun sein filigranes und kluges Theater. Stets sehr erfolgreich, doch ohne je richtig gehypt worden zu sein. Das mag mit daran liegen, dass er auch opulente und sperrige Stoffe gerne unspektakulär durch die Kammerspiel-Brille betrachtet. Wie die zum Berliner Theatertreffen 2002 geladene „Alkestis“ von Euripides ist ihm nun auch die Abrechnung des alternden Dramatikers mit dem sinkenden Stern Athen am Ende des Peloponnesischen Krieges zur intimen Studie finsterster Seelenzustände geworden.

„Die Bakchen“, landauf landab der Stoff der Stunde, bergen den Konflikt zwischen Natur und Vernunft, den man in den Siebzigern gerne herausgearbeitet hat. Heute tauscht man lieber Efeuranken gegen Sprengstoffgürtel, nimmt Dionysos als religiös beflügelten Wilden aus dem Osten wörtlich – und hat damit praktisch schon das Stück zum 11. September vorliegen, zur brennenden Banlieu – oder zur grassierenden Angst vor einer neuen Pandemie. Denn die Vögel zur Grippe kommen schließlich auch vor im Stück. Wieler aber lässt uns noch nicht einmal die stampfende Wilde-Weiber-Folklore, die vor fünf Wochen Dieter Dorn am Münchner Residenztheater wieder auf den Tisch brachte. Er erzählt die Geschichte vom grausamen Tod eines einsamen Vernunftmenschen, den schon ein andersfarbiger Anzug im Kleiderschrank aus der mühsam erkämpften Ruhe brächte. Und wie mühsam erkämpft die ist, zeigt André Jung vorzüglich: Äußerlich steif und hochgeschlossen gewandet, ringt er doch dauernd seine inneren Brunftschreie nieder. Kein Zufall also, dass er dem „neuen Gott“ Lüsternheit unterstellt.

Pentheus’ Schicksal, Mutter Agaues kurzer (und peinlich plakativ geratener) Jagd-Triumph, ja eigentlich alles hier erzählt aber vor allem vom schönen Schrecken der Lust: Als ein blutüberströmter Bote berichtet, wie die Frauen auf dem Mount Kithairon den Leib des Königs zerfetzten, beugen sich die kühlen Klonkriegerinnen, gemeinhin Bakchen genannt, im Sitzen nach vorn und reiben sich zum Rhythmus der erzählten Gräuel die Leiber in Ekstase. So viel Orgiastik muss selbst bei Wieler sein. Denn die Lust an der Gewalt ist schließlich die mächtigste und unstillbarste Lust von allen. Ob sie nun die Farbe der Vernunft, der Religion oder der futuristischen Coolness trägt. Damit ist Wielers Interpretation der 2500 Jahre alten Geschichte die bei weitem deprimierendste von allen.