: Neue Eiszeit in Peking
CHINA Der Dissident Liu Xiaobo wird wegen „Untergrabung der Staatsgewalt“ zu elf Jahren Haft verurteilt. Er will den Richterspruch anfechten. Das Strafmaß löst heftige Kritik aus
■ Die Verurteilung des chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo zu elf Jahren Gefängnis hat weltweit Empörung hervorgerufen. Die UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay sprach von einer „neuen schwerwiegenden“ Beschneidung der Meinungsfreiheit in China. Die Entscheidung werfe ein schlechtes Licht auf die jüngsten Ankündigungen Chinas, mehr für die Menschenrechte zu tun. Die schwedische EU-Ratspräsidentschaft nannte die Strafe „unverhältnismäßig“. Auch Bundeskanzlerin Merkel äußerte sich „bestürzt“ über das Urteil. „Ich bedauere, dass die chinesische Regierung trotz großer Fortschritte in anderen Bereichen die Meinungs- und Pressefreiheit immer noch massiv einschränkt“, erklärte sie in Berlin. Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP) forderte China auf, „die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten“. (afp)
AUS PEKING JUTTA LIETSCH
„Sein Verhalten hat die Grenzen der Redefreiheit übertreten und ist deshalb ein Verbrechen.“ Das ist der Kernsatz des Urteils, das Richter Jia Lianchun vom Pekinger Mittleren Gericht Nr. 1 am vorigen Freitag verhängte. Dafür muss der Ehrenpräsident des unabhängigen chinesischen PEN-Clubs, Liu Xiaobo, elf Jahre ins Gefängnis. Es ist die härteste Strafe für einen politischen Kritiker in China, seit die „Untergrabung der Staatsgewalt“ 1997 als Straftat ins chinesische Gesetzbuch aufgenommen wurde.
Konkret hielt ihm das Gericht sechs Internetartikel und das Reformmanifest Charta 08 vor, die zur „Untergrabung der Souveränität des Staates und des sozialistischen Systems“ aufhetzten. Der in der Charta 08 formulierte Aufruf, das Monopol der Einparteienherrschaft zu beenden und eine Bundesrepublik China im Rahmen von Demokratie und Verfassungsrecht aufzubauen, sei als „Anstachelung zur Untergrabung der Staatsgewalt“ zu werten. Das Dokument war 2008 im Internet veröffentlicht worden, tausende Chinesen haben es unterschrieben.
Der Prozess gegen Liu und die harte Strafe haben im In- und Ausland Entsetzen und scharfe Kritik ausgelöst. „Die Absicht der Regierung ist es, eine eiskalte Botschaft auszusenden“, sagte Joshua Rosenzweig, Mitarbeiter der US-Organisation Duihua, die sich für politische Gefangene einsetzt. Nach dem chinesischen Sprichwort: „Ein Huhn töten, um die Affen in Angst zu versetzen“, sei das Urteil eine Warnung an alle Demokratie-Aktivisten.
Regierungskritiker zeigten sich kurz nach dem Urteil jedoch beherzt. „Wir müssen jetzt erst recht mutig sein“, forderte eine Hochschuldozentin am Samstag in einer Diskussionsveranstaltung in einem Pekinger Buchladen über das Thema „Solidarität“.
Liu, ein ehemaliger Hochschullehrer und Literaturkritiker, kämpft seit zwanzig Jahren für mehr demokratische Freiheiten in China. Sein Engagement in der Demokratiebewegung von 1989 büßte er mit 20 Monaten Gefängnis. Später verschwand er für drei Jahre im Arbeitslager und saß immer wieder in Hausarrest. Er lebte stets mit der Angst, dass die Polizei ihn jeden Moment erneut verschleppen könnte – so wie sie es in der Nacht zum 9. Dezember 2008 tat. Das Urteil folgte auf eine juristische Farce. Der Prozess dauerte weniger als drei Stunden. Liu beteuerte seine Unschuld und will den Richterspruch anfechten.
Die Verurteilung Lius muss alle aufrütteln, die den Versicherungen hoher KP-Funktionäre glauben, dass die Partei China langsam, aber sicher in einen Rechtsstaat verwandeln wolle. Derzeit geschieht das Gegenteil. Fortschritte, die von chinesischen Juristen und Bürgerrechtlern mühsam durchgesetzt wurden, sind gefährdet oder rückgängig gemacht worden: An die Spitze wichtiger Justizbehörden setzte die KP wieder Parteisoldaten ohne juristische Ausbildung. Rechtsanwälte werden unter Druck gesetzt, sobald sie ihre Arbeit ernst nehmen und sich in heiklen Prozessen engagieren. Viele haben ihre Lizenz verloren, werden verfolgt und zermürbt.
Neue Vorschriften engen den Spielraum von chinesischen Journalisten ein, über Rechtsfälle zu berichten. Nach offiziellen Statistiken ist die Zahl der Verfahren wegen „Gefährdung der Staatssicherheit“ in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen, 2008 wurden 1.407 Chinesen wegen dieses Delikts verurteilt, das waren doppelt so viele wie 2007.
Gleichzeitig wird der Ton schärfer, mit der die Pekinger Regierung und eine wachsende nationalistische Mittelschicht ausländische Kritik an der chinesischen Politik als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas“ zurückweisen.
Aber Liu ist keine „innere Angelegenheit“. Er hat nichts anderes getan, als sich dafür einzusetzen, dass sein Land besser und gerechter regiert wird. Das Urteil gegen ihn ist ein Verbrechen, begangen von jenen in der KP-Führung, die ihre eigene Macht und Karriere sichern wollen.
Pekings Führung setzt ihre Ziele auf internationaler Bühne immer selbstbewusster durch, wie der Klimagipfel in Kopenhagen bewies. Nach innen offenbaren die Funktionäre eine merkwürdige Unsicherheit, die auf Machtkämpfe in den Spitzenzirkeln der KP hindeutet. Mao sagte: Du hast das Recht auf freie demokratische Diskussionen, warum meine Politik richtig ist und wie sie effektiver durchgesetzt oder verbessert werden könnte. Eine Diskussion, warum meine Politik falsch ist, wäre keine Demokratie, sie wäre Konterrevolution. Seine Nachfolger bauen inzwischen Bankentürme, handeln mit Aktien und haben die größten Devisenreserven der Welt angehäuft. Aber sie sind immer noch die Erben Maos.
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