Kolumne Gerüchte: Dann doch lieber die Gene

Die Eltern sind schuld, wenn die Seele später muckt. Hieß es früher. Aber wer hat Mist gebaut, wenn der eigene Nachwuchs leidet?

Theresa war immer eine Theorietante gewesen, und ich erinnere mich noch an die späten 70er Jahre, als wir als 20-Jährige im "Dschungel" in Berlin in Rauchschwaden gehüllt über repressive Toleranz und den Tod der Familie diskutierten.

Mit Wolf, der erfolglos ein Auge auf Theresa geworfen hatte und die Gespräche auf Wilhelm Reichs Sexualtheorien auszudehnen versuchte, erläuterte mir Theresa damals die Theorie der mütterlichen Symbiose. Nach Ronald D. Laing war die mütterliche Symbiose und damit auch irgendwie die Mutter selbst an vielem schuld. Ihre Mittäterschaft erstreckte sich auf die erbarmungslose Weitergabe von Schuldgefühlen, Double-Binds, Ambivalenzen, versteckte Hassgefühle und überhaupt ein grundsätzliches Lebensverbot gegenüber dem Kind.

"Ich habe ein Muttertrauma", hatte Theresa damals verkündet, und auch Wolf hatte irgendwann entdeckt, dass seine Probleme mit Frauen in der frühkindlich erlebten Dominanz seiner Mutter begründet sein mussten. Soweit ich mich erinnere, machte Theresa eine Psychotherapie, in der ihr Behandler ihre vermeintliche Aggressionshemmung gegenüber den Eltern thematisierte und sie ermunterte, selbige Regungen noch mal schuldgefühlfrei wiederzuerleben.

Eigentlich hatte ich unsere alten Kneipengespräche längst vergessen und mit Theresa in den vergangenen Jahren vor allem über Jobs, Honorare, Ehen und den Alltag mit den Kindern gesprochen, wenn wir uns trafen. Bis neulich.

"Ich komme mir so blöd vor", sagt Theresa, "man stellt sich doch die Frage: Was habe ich falsch gemacht?" Wir spazieren durch böigen Herbstwind über das Areal des stillgelegten Flughafens Tempelhof. "Ich meine, es ist vielleicht auch etwas Genetisches, sagte der Arzt", fährt Theresa fort. Ihre Tochter Sophia geht seit zwei Wochen nicht mehr zum Unterricht, massive Schulangst, Depressionen. Allein sein kann die Tochter auch nicht. Es ist ein Problem.

"Du bist ja nicht die Einzige", versuche ich zu trösten. Der Sohn meiner Jugendfreundin Luise hat nach sechs Semestern sein Jurastudium geschmissen, schluckt derzeit Antidepressiva und spricht mit seinem Psychiater über seine Mutterbeziehung. Die Tochter von Gesine und Winfried hat nur den mittleren Schulabschluss geschafft, hängt seit einem Jahr rum, geht lediglich mit ihrem Hund täglich raus und einmal in der Woche zu einer Therapeutin.

"Wir haben doch versucht, einiges besser zu machen. Sophia konnte immer kuscheln. Viel Ermunterung, keine abwertenden Sprüche", seufzt Theresa, "hat wohl nichts genützt." "Vielleicht sind die Veranlagungen eher hirnchemisch, liegen in der Familie", schlage ich vor.

Depressionen haben was mit einem Mangel an Botenstoffen im Hirn zu tun, hat auch Luise neulich betont. Sie behauptet, dass an Tims Krise vielleicht doch die Hirnbiologie der Familie schuld sei. Der Familie ihres getrennt lebenden Mannes, wohlgemerkt, das fand ich dann doch gehässig. "Man legt sich alles so zurecht", sage ich. "Vielleicht sollten wir mal mit Sophia zur Familientherapie", murmelt Theresa. Manchmal möchte ich mit ihr noch mal am Tresen stehen. Die gleichen Themen. Aber doch anders. Als damals, im "Dschungel", vor 30 Jahren.

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Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).

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