Polit-Pop auf der Flucht

Der Protest ist gerade anderswo, nur nicht hier: Viel mehr fand eine Runde, die sich im Rahmen von „One World“ zum Thema Protestsongs im HAU traf, nicht heraus

Es gibt schon sehr beschränkte Veranstaltungen, gerade auch beim angesagten „Popdiskurs im Theater“. Im Rahmen des Medienfestivals „One World“, das sein Thema Menschenrechte mit Filmen über Kidnapping in Kirgisien und basisdemokratischen Digicam-Projekten aus dem Irak dokumentiert, fand im HAU 2 ein Abend statt, der in Gesprächen, Musikvideos und Filmen die Relevanz des rein deutschen Protestsongs diskutieren sollte. Das sah eh schon nach Scheuklappen und ein bisserl wenig weltproblembewusst aus. Da aber bei allen Beteiligten weder der Wille erkennbar wurde, über das gesetzte Thema auch tatsächlich zu reden, noch die Kompetenz existierte, über Pop heute überhaupt etwas zu sagen, fühlte man sich drei Stunden lang in einer Verdummungsfalle.

Auf der Bühne saß in heilloser Runde ein ungeschickter Moderator in Gestalt des testcard-Herausgebers Martin Büsser. Mit der verschnarchten These, dass der deutsche Protestsong sich durch die Kontinuität des Antiamerikanismus auszeichne, wollte er anstacheln zu hitziger Debatte. Darauf ließen sich die Diskutanten aber gar nicht erst ein. André Greiner-Pol, Frontmann der Band Freygang, die zu DDR-Zeiten öfter mal Auftrittsverbot hatte, erzählte lieber Dönchen darüber, wie man sich damals Kanülen ins Revers steckte, um zu signalisieren: „Mich impft das System nicht!“

George Lindt vom Berliner Label Lieblingslied hat letztes Jahr einen Sampler herausgebracht, der „Protestsongs.de“ hieß, sich mit einem schwarz-rot-gelben Friedenstauben-Cover schmückte und von Nicole über Nena bis zu Slime einen willkürlichen Ritt durch, tja, Lieblingslieder hinlegte. Dafür wurde er ein bisschen geohrfeigt und äußerte im Loop: „Ich wollte doch auf den Sampler nur draufmachen, was mir wichtig ist.“ Verdattert ob dieser kopflosen Verfechtung des geschmäcklerisch Subjektiven, stellte Büsser schnell die Frage: „Welche Bedeutung hatte der Blues in der DDR?“, auf die gottlob wieder niemand antwortete.

In heroischer Beherztheit unternahm dann Ex-Ton-Steine Scherben-Schlagzeuger Wolfgang Seidel den Versuch, das Ungetüm „Protestsong“ wenigstens mal einer Analyse zu unterwerfen: Nicht nur die Texte betrachten und „Literaturkritik light“ betreiben, forderte er, sondern auch das Musikalische, das Visuelle sowie den Habitus der Musiker als mögliche Reibungspunkte mit der Mehrheitsgesellschaft verstehen. Beim Bayerlein Daniel Küblböck, das auf seinem neuesten Longplayer „Liebe Nation“ Rio Reisers „König von Deutschland“ trotz Toptext qua Habitus radikal ent-protestet hat, reibt sich nur leider gar nichts mehr.

Darüber hob man zur larmoyanten Klage an, dass Bands wie Mia, Wir Sind Helden, Juli und Silbermond als Protest verkauft werden, aber doch eigentlich nur „der Mittelstand der alten Bundesrepublik“ (Seidel) seien, der sich verzweifelt an das klammere, was einmal war. Immerhin sagte da Falco Schuhmann vom Antifaschistischen Pressearchiv das einzig Gescheite an diesem Abend: Es sei doch rückwärts gewandt, immer nur „Gestern war alles besser“ zu brüllen und gleichzeitig den Mainstream von heute (Helden) mit den Subkulturen von gestern (Scherben, Dylan) zu vergleichen. Dieser Einwurf führte aber auch nicht dazu, in den Subkulturen von heute Ansätze von Protest suchen zu gehen.

Als im Anschluss an diese völlig vergeigte Altherrenrunde das Hamburger Schwabinggrad Ballett vor fast leerem Saal aufspielte, musste man feststellen: Will man anregenden Polit-Pop von heute finden, gehe man besser weder ins Theater noch gebe man im Soulseek-Suchfenster den Begriff „Protestsong“ ein. Fühlt man allerdings nostalgisch mit ihm, bewege man sich in die Zettel-Ausstellung „Lied und soziale Bewegung“ des Vereins „Lied und soziale Bewegung e. V.“ von Dr. Lutz Kirchenwitz im Treppenaufgang des HAU und gut.

KIRSTEN RIESSELMANN