Aufarbeitung in Peru: Die Last der dunklen Jahre

Der Krieg zwischen peruanischem Militär und maoistischer Guerilla forderte in 20 Jahren 70.000 zivile Opfer. Noch immer leben viele Menschen isoliert mit ihren Traumata.

Die Angehörigen von 92 Menschen, die im Dorf Putis im Jahr 1984 von der Armee erschossen worden, beerdigen erneut ihre Toten. Bild: reuters

Francisco Cisneros Prado sitzt am Rande des Feldes. Die Herde hat er im Blick, ein paar Kühe, Ziegen und Schafe. Der alte Mann wohnt in Huarapite, einem kleinen Dorf rund drei Stunden von Ayacucho entfernt. "So saß ich auch damals hier. Plötzlich donnerten die Schüsse, und ich dachte, es tobt wieder ein Gefecht zwischen Armee und der Guerilla. Ich legte mich flach ins Gras", erinnert sich Prado.

Sein Sohn Wilber hat ihn herangewunken und ihn gebeten, dem Reporter zu erzählen, was sich vor 26 Jahren in Huarapite abgespielt hat. Nun sitzt der alte, kleingewachsene Mann an der Lehmziegelwand seines Hauses und erzählt mit stockender, leiser Stimme. Sein Sohn übersetzt vom Quechua ins Spanische. "Nach den Schüssen hörte ich den Hubschrauber, der auf einem der umliegenden Hügel landete. Die Tiere spielten verrückt, und dann sah ich die Soldaten", sagt Francisco Cisneros Prado, dessen Augen jetzt unruhig nach links und rechts wandern. Erst zu seinem Sohn und dann zu Armanda del Solar. Die Krankenschwester ist gemeinsam mit einem Kollegen hierhergekommen, um die Geschichte der beiden Überlebenden des Dorfes bei dem Massaker von Huarapite aufzuzeichnen.

Francisco Cisneros Prado ist einer der beiden Männer, die die Soldaten damals blutüberströmt liegen ließen, als sie am Nachmittag in mehreren Lastwagen wegfuhren. "26 Menschen, Männer wie Frauen, hatten sie exekutiert - vor den Augen der Kinder, die geschlagen und anschließend sich selbst überlassen wurden", erklärt Wilber Luís Prado Vásquez. Der Mitdreißiger ist Repräsentant der Vereinigung der Betroffenen von Huarapite. Zusammen mit seinem Vater kämpft er dafür, dass drei Jahrzehnte nach dem Massaker die Täter ermittelt werden.

"Nachdem ich ausgesagt hatte, wollte ich endlich Gerechtigkeit", erklärt Francisco Cisneros Prado, der sich nur humpelnd fortbewegt. Gegenüber den Experten der Wahrheitskommission hat er seine Aussage niedergelegt. Die Kommission hat mehr als zwei Jahre recherchiert, um die Zahl der Opfer des blutigen Krieges zwischen der Guerilla des Leuchtenden Pfads (Sendero) und den peruanischen Sicherheitskräften zu ermitteln.

Es begann im Frühjahr 1980 mit dem Aufruf zum bewaffneten Kampf und dem Verbrennen einiger Wahlurnen durch die Guerilla. Das war der Auftakt für den blutigen Krieg zwischen den Subversiven und der peruanischen Armee und Polizei, der erst zwanzig Jahre später endete. Im August 2003 wurde der Bericht vorgelegt und die Aussage von Francisco Cisneros Prado später auch auf Video festgehalten. Heute ist sie Bestandteil des Archivs mit insgesamt 15.000 Zeitzeugenaussagen.

Die maoistische Guerillaorganisation Sendero Luminoso entstand in Peru Ende der 60er Jahre in Ayacucho um den Philosophieprofessor Abimael Guzmán. Mitte der 70er Jahre ging Guzmán, erklärter Anhänger von Pol Pot, in den Untergrund und rief 1980 zum "Volkskrieg" auf. Der wurde überaus blutig geführt. Es galt die Devise: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns, und in der zweiten Hälfte der 80er Jahre kontrollierte der Sendero Luminoso große Gebiete Perus. Erst zu Beginn der 90er Jahre wurde die Guerilla von der Armee in einem schmutzigen Krieg langsam zurückgedrängt. Ein erster Erfolg des diktatorisch regierenden Präsidenten Alberto Kenya Fujimori war die Festnahme Abimael Guzmáns im September 1992 in Lima. Daraufhin ging der Einfluss des Sendero langsam zurück. (kh)

In Huarapite wurde mit dieser Aussage die Vergangenheit wieder lebendig. Vergessen konnte in dem Dorf mit den rund dreißig Häusern, die fast alle um den Dorfplatz mit dem mächtigen Eukalyptusbaum stehen, ohnehin kaum einer. Vater Prado träumt nachts manchmal von dem, was er erlebt hat. Die Soldaten haben ihn zusammengeschlagen, die Nase gleich mehrfach gebrochen. Die sitzt nun völlig schief im Gesicht. Genau weiß er nicht mehr, ob das vor oder an dem Tag passierte, den er nie vergessen wird. "Ich habe gesehen, wie die Soldaten hinter den beiden Gómez-Schwestern herliefen und sie festhielten", erzählt er mit leiser, aber fester Stimme. "Dann hörte ich sie schreien, irgendwann ließen sie wieder von ihnen ab. Als die Mädchen davonlaufen wollten, schossen sie ihnen in den Rücken."

Bilder, die er genauso wenig vergessen kann wie die Soldaten, die ihn schließlich entdeckten, zusammenschlugen, auf ihn schossen und dann mit mehreren Schussverletzungen liegen ließen. Sie hielten ihn für tot, und so war es auch beim zweiten Überlebenden. Victor Cisneros Serda arbeitete auf dem Feld, als die Soldaten kamen. "Sie waren auf der Suche nach Senderistas und sie waren aufgebracht", erinnert sich der 50-Jährige mit den breiten Koteletten und dem kecken braunen Filzhut.

Senderistas nannte man die überaus brutal agierenden Kämpfer des Sendero Luminoso. Die Wahrheitskommission macht in ihrem Bericht die Guerilleros für das Gros der Opfer des Bürgerkriegs, oftmals Zivilisten, verantwortlich. Doch auch die Armee agierte überaus brutal. Sie verdächtigte die Bauern rund um Ayacucho der Kollaboration. Willkürliche Verhaftungen, das Verschwindenlassen angeblicher Guerilleros und eine Reihe von Massakern - in Putka, Putis oder Huarapite - gehen auf das Konto von Militär und Polizei, belegt der Bericht der Wahrheitskommission.

"Auch mehr als zwanzig Jahre später leben viele der Opfer traumatisiert und auf sich selbst gestellt in den abgelegenen Dörfern", sagt Armanda del Solar. Die Krankenschwester, die etwas Psychologie studiert hat, arbeitet für Paz y Esperanza, eine Hilfsorganisation, die sich auf die Arbeit mit den Opfern des Bürgerkriegs spezialisiert hat und mit Therapieangeboten und kleinen Entwicklungsprojekten versucht, neue Perspektiven in den Dörfern zu erwecken.

"Dazu gehört auch, für Exhumierungen und die Suche nach Verschwundenen einzutreten", erklärt Honorato Méndez. Er arbeitet für "Frieden und Hoffnung", so der deutsche Name der Stiftung in Ayacucho. Dort wurden rund vierzig Prozent der 70.000 Toten des Kriegs registriert, hier unterhält die Stiftung ein Zentrum. In Lima befindet sich dagegen die Zentrale, wo die politischen Entscheidungen über den Umgang mit der Vergangenheit getroffen werden. "Lobbyarbeit für die Opfer ist wichtig", betont Daniel Roca Sulca. Der 29-Jährige ist der nationale Vorsitzende des Dachverbandes der Organisationen der Opfer von politischer Gewalt (Conavip) und tritt für Strafverfolgung und Aufarbeitung von zwanzig Jahren Terror ein.

Es ist ein unbequemes Thema in Peru. Zwar hat die Wahrheitskommission quasi direkt im Anschluss an den Krieg ihre Arbeit aufgenommen, aber der Bericht und die daraus resultierenden Empfehlungen sind in Perus politischem Establishment nicht gerade beliebt. "Menschenrechte haben in Peru keine Priorität, die jüngere Geschichte gilt als delikate Angelegenheit. Schließlich ist Perus Präsident Alan García politisch für einige der Massaker verantwortlich", erklärt Daniel Roca Sulca die Hintergründe.

García, der nächstes Jahr seine zweite Regierungsperiode beendet, hat Peru von 1985 bis 1990 regiert und ließ der Armee bei der Bekämpfung der Guerilla freie Hand. Das Cayara-Massaker fällt in seine Amtszeit, und die Opferverbände machen García heute dafür verantwortlich, dass Wiedergutmachungszahlungen trotz bestehender Gesetze nicht eingelöst wurden. "Bisher gibt es keinen Fonds und auch kein Register der Berechtigten. Von denen sterben Jahr für Jahr mehr", kritisiert Roca Sulca. Er gehört zur neuen Generation, die für Aufklärung kämpft. Seine Eltern wurden von Guerilleros des Sendero Luminoso ermordet, seine jüngere Schwester wurde entführt. Bis heute gibt es nicht mal einen Ort, an dem der agile Mann, der zwischen Ayacucho und Lima pendelt, der Toten gedenken kann. Einige wenige Mahnmale und ein privates Museum in Ayacucho - mehr hat Peru nicht zu bieten. Das soll sich ändern, wenn auch nicht ganz freiwillig.

Das Museum der Erinnerung, bei dessen Grundsteinlegung Anfang November neben Staatschef Alan García Deutschlands Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel stand, geht auf eine Initiative von Niebels Vorgängerin Heidemarie Wieczorek-Zeul zurück. Die Idee entstand im Kontext eines Besuchs der Ministerin in der von der Wahrheitskommission konzipierten Ausstellung "Yuyanapaq" im Frühjahr 2008 in Lima.

Begeistert waren die Besucher von den 1.700 teils illegal gemachten Fotos und den rund 15.000 Zeitzeugenberichten. "Einen dauerhaften Raum müsse die Ausstellung haben, hat Frau Wieczorek-Zeul gesagt. Und damit war die Idee für ein Museum geboren", erinnert sich Salomón Lerner Fébres. Der Professor für Psychologie war Vorsitzender der Wahrheitskommission und ist im Laufe seiner Arbeit zu Perus hartnäckigstem Kämpfer für den offenen Umgang mit der Vergangenheit geworden. Anfangs saß auch Lerner in der Kommission für den von Deutschland mit zwei Millionen Euro gesponserten Museumsbau. Doch angesichts der Widerstände im politischen Establishment verließ er im September die Kommission - ähnlich wie Mario Vargas Llosa, Perus Literaturnobelpreisträger. Da war das Gesetz mit der Nummer 1067 gerade vom peruanischen Parlament verabschiedet worden.

Ein Gesetz, welches eine Verjährungsfrist für alle vor dem November 2003 verübten Menschenrechtsverbrechen vorsah. Als "schlecht verkleidete Amnestie" brandmarkte der wortgewaltige Schriftsteller Mario Vargas Llosa das Dekret, und sofort ruderten Präsident und Parlament zurück und kassierten das Gesetz. Eine positive Entscheidung laut Lerner. "Doch die wichtige Frage, wie, was und wer uns die Geschichte in diesem Museum vermittelt, ist ungeklärt. Ein Land, das seine Geschichte vergisst, läuft Gefahr, dass sie sich wiederholt."

Das wollen die Leute aus Huarapite verhindern. Sie haben nach der ersten Anzeige von 1984 eine zweite erstattet, um die Verantwortlichen des Massakers zur Rechenschaft zu ziehen.

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