Erinnern an die "Freiburger Thesen": Wofür steht die FDP?

Menschenwürde, Fortschritt, Reform des Kapitalismus - wie die FDP 1971 in ihren Freiburger Thesen den Liberalismus definierte. Eine Dokumentation.

Im Schatten von 1971? Liberalismus heute: Guido Westerwelle. Bild: dapd

Der Liberalismus war und ist Träger und Erbe der demokratischen Revolutionen, die zu Ende des 18. Jahrhunderts in Amerika und Frankreich vom Gedanken der Freiheit und Würde des Menschen ausgehen.

Die aus diesen bürgerlichen Revolutionen in die späteren Reformbewegungen im Staat eingehende liberale Tradition, die aus der bürgerlichen Aufklärung als geistige Gegenbewegung gegen den Absolutismus und Merkantilismus des monarchischen Staates und der feudalen Gesellschaft entstanden ist, hat von Anfang eine doppelte Zielrichtung.

Sie geht auf eine Demokratisierung des Staates, die mit dem dritten und zuletzt mit dem vierten Stand allen Staatsbürgern das aktive und passive Wahlrecht und damit das Recht auf größtmögliche und gleichberechtigte Teilhabe und Mitbestimmung an der Organisation und Aktivität des Staates verschafft.

Die Freiburger Thesen, deren ersten Teil die taz in einer gekürzten Fassung dokumentiert, wurden am 27. Oktober 1971 auf dem 22. Ordentlichen Bundesparteitag der FDP als Programm beschlossen. Sie waren eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Umbruch der späten Sechzigerjahre. Und auf die Bundestagswahl 1969, nach der es zwar zur Bildung der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt gekommen war, die FDP aber bloß 5,8 Prozent erreicht hatte - das bis heute schlechteste Ergebnis der Parteigeschichte.

Als Verfasser gelten der damalige Parteivorsitzende und spätere Bundespräsident Walter Scheel, der Generalsekretär Karl-Hermann Flach und der spätere Bundesinnenminister Werner Maihofer. 1977 wurden die Freiburger Thesen durch die Kieler Thesen abgelöst, mit denen sich die Partei wieder auf ihre wirtschaftsliberale Tradition besann. (dzy)

Sie geht zugleich auf eine Liberalisierung, durch verfassungsmäßige Verbürgung unantastbarer Freiheitsrechte und Menschenrechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Freie Entfaltung der Persönlichkeit, gleiche Stellung des Bürgers vor dem Gesetz, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit, Religionsfreiheit und Koalitionsfreiheit, aber auch Rechte auf Leben und Gesundheit usw. sind die demokratischen Errungenschaften dieser Liberalisierung des Staates.

Diese Demokratisierung und Liberalisierung des Staates aus dem Gedanken der Menschenwürde und Selbstbestimmung, führt nach vielen vergeblichen Anläufen und verhängnisvollen Rückschlägen am Ende zu dem als konstitutionelle Demokratie verfaßten freiheitlichen Rechtsstaat unseres Grundgesetzes, mit Grundrechtsverbürgungen, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung und Rechtsbindung aller Staatsgewalt.

Einer freidemokratischen: liberaldemokratischen Partei in unserem Lande bleibt die unverzichtbare und unersetzbare Aufgabe eines Hüters und Wahrers dieser Tradition des klassischen Liberalismus gegenüber allen Freiheit und Recht bedrohenden staatlichen Maßnahmen und gesellschaftlichen Entwicklungen.

Wir stehen heute am Anfang der zweiten Phase einer von der bürgerlichen Revolution ausgehenden Reformbewegung auch in der Gesellschaft, wie sie nicht zuletzt in den tiefgreifenden und nachhaltigen Bewußtseinsveränderungen der weltweiten Jugendrevolte sich ankündigt.

Sie zielt auf eine in der Sache nicht weniger als 1775 und 1789 revolutionäre, im wörtlichen Sinne umwälzende, in den westlichen Industriestaaten und Massendemokratien nun endlich auf evolutionärem Wege durchsetzbare Demokratisierung der Gesellschaft, aus demselben Gedanken der "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit!", aus dem auch die Demokratisierung des Staates ihren Ursprung nahm.

Diese neue Phase der Demokratisierung und Liberalisierung, im ursprünglichen und nicht dem heute oft mißbrauchten Sinne dieser Worte, entspringt aus einem gewandelten Verständnis der Freiheit, das dem modernen Liberalismus die neue politische Dimension eines nicht mehr nur Demokratischen, sondern zugleich Sozialen Liberalismus erschließt.

Freiheit bedeutet für den modernen Liberalismus nicht länger die Freiheit eines aus der Gesellschaft herausgedachten, dem Staate entgegengesetzten autonomen Individuums, sondern die Freiheit jenes autonomen und sozialen Individuums, wie es als immer zugleich einzelhaftes und gesellschaftliches Wesen in Staat und Gesellschaft wirklich lebt.

Freiheit und Glück des Menschen sind für einen solchen Sozialen Liberalismus danach nicht einfach nur eine Sache gesetzlich gesicherter Freiheitsrechte und Menschenrechte, sondern gesellschaftlich erfüllter Freiheiten und Rechte. Nicht nur auf Freiheiten und Rechte als bloß formale Garantien des Bürgers gegenüber dem Staat, sondern als soziale Chancen in der alltäglichen Wirklichkeit der Gesellschaft kommt es ihm an.

Wie auf dem Felde der Bildungspolitik tritt der Soziale Liberalismus auch auf dem der Gesellschaftspolitik ein für die Ergänzung der bisherigen liberalen Freiheitsrechte und Menschenrechte durch soziale Teilhaberechte und Mitbestimmungsrechte.

Die nachfolgenden Thesen zur liberalen Gesellschaftspolitik entwerfen die politische Praxis, die diesen neuen Geist einer Demokratisierung der Gesellschaft in einer künftigen liberalen Gesellschaftspolitik umsetzt.

These 1: Liberalismus nimmt Partei für Menschenwürde durch Selbstbestimmung. Er tritt ein für den Vorrang der Person vor der Institution. Er setzt sich ein für größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen und Wahrung der menschlichen Würde in jeder gegebenen oder sich verändernden politischen und sozialen Situation. Behauptung der Menschenwürde und Selbstbestimmung des Einzelnen in Staat und Recht, in Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber einer Zerstörung der Person durch die Fremdbestimmung und durch den Anpassungsdruck der politischen und sozialen Institutionen waren und sind die ständige Aufgabe des klassischen wie des modernen Liberalismus. Oberste Ziele liberaler Gesellschaftspolitik sind daher die Erhaltung und Entfaltung der Individualität persönlichen Daseins und der Pluralität menschlichen Zusammenlebens.

Der Demokratische und Soziale Liberalismus stellt den Menschen in die Mitte von Staat und Recht, von Wirtschaft und Gesellschaft.

Wo immer vom Menschen geschaffene Einrichtungen in Staat und Recht, in Wirtschaft und Gesellschaft diese ihre alleinige Aufgabe als Mittel zum Zwecke des Menschen: als Bedingung größtmöglicher und gleichberechtigter Freiheit und Sicherheit, Wohlfahrt und Gerechtigkeit zwischen Menschen verleugnen und mißverstehen, nimmt liberale Gesellschaftspolitik Partei für die Person gegen die Institution, Partei für die Achtung und den Schutz der Menschenwürde und damit Selbstbestimmung des Einzelnen, gegen die den Menschen seiner selbst entfremdenden Fremdbestimmungen und Anpassungszwänge, welche die Individualität des Einzelnen ebenso zu zerstören drohen wie die Pluralität in der Gesellschaft.

So notwendig menschliches Zusammenleben wie persönliches Dasein ein bestimmtes durch Recht und Moral erzwungenes Mindestmaß an Konformität und Kontinuität fordert, so entscheidend muß es die Aufgabe liberaler Politik in der Industriegesellschaft und Massendemokratie sein, die Freiräume für die Individualität des Menschen und die Spielräume für Pluralität der Gesellschaft gegen zerstörerische Fremdbestimmung und übermächtigen Anpassungszwang zu behaupten.

These 2: Liberalismus nimmt Partei für Fortschritt durch Vernunft. Er tritt ein für die Befreiung der Person aus Unmündigkeit und Abhängigkeit. Er setzt sich ein für Aufklärung des Unwissens und Abbau von Vorurteilen, für Beseitigung von Bevormundung und Aufhebung von Unselbständigkeit. Erste Voraussetzungen einer auf die Förderung solcher Emanzipation des Menschen und damit Evolution der Menschheit gerichteten liberalen Gesellschaftspolitik sind geistige Freiheit und die Prinzipien der Toleranz und der Konkurrenz. Nur auf dieser Grundlage ist eine freie und offene Gesellschaft möglich, in der Wahrheit und Gerechtigkeit nicht als fertige Antworten überliefert und hingenommen, sondern angesichts des Wandels der Verhältnisse stets als neu sich stellende Fragen an den Menschen aufgeworfen und erörtert werden.

Was den Liberalismus als eine Partei des Fortschritts durch Vernunft von allen Parteien des Fortschritts durch Klassenkampf unterscheidet, ist sein durch Erfahrung erhärtetes Mißtrauen gegen jede, und sei es auch nur für eine "Zeit des Übergangs" in das am Ende verheißene "Reich der Freiheit", dem einzelnen Menschen und ganzen Gesellschaften nach einer einheitlichen politischen Ideologie auferlegte oder gar aufgezwungene Sinngebung persönlichen Daseins und menschlichen Zusammenlebens.

Der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" (Kant) ist nicht durch ideologische Bevormundung und moralische Gängelung des Menschen, etwa aus der elitären Anmaßung eines "richtigen Bewußtseins" möglich. Der im klassischen Liberalismus verheißene Aufstand des Menschen zum aufgeklärten und mündigen Bürger setzt genau umgekehrt einen Prozeß der Aufklärung von Unwissen und der Befreiung von Bevormundung voraus, der sich nur in der permanenten Evolution einer nach den Prinzipien der Toleranz und der Konkurrenz organisierten freien und offenen Gesellschaft vollziehen kann.

These 3: Liberalismus fordert Demokratisierung der Gesellschaft. Nach dem Grundsatz: Die Gesellschaft sind wir alle! erstrebt der Liberalismus die Demokratisierung der Gesellschaft durch größtmögliche und gleichberechtigte Teilhabe aller an der durch Arbeitsteilung ermöglichten Befriedigung der individuellen Bedürfnisse und Entfaltung der persönlichen Fähigkeiten. Er tritt ein für entsprechende Mitbestimmung an der Ausübung der Herrschaft in der Gesellschaft, die zur Organisation dieser arbeitsteiligen Prozesse erforderlich ist. Nach dem Grundsatz: Die Gesellschaft darf nicht alles! zielt er im freiheitlichen Sozialstaat zugleich auf die Liberalisierung der Gesellschaft, durch eine mittels Gewaltenteilung, Rechtsbindung aller Gewalt, Grundrechtsverbürgungen und Minderheitenschutz eingeschränkte Herrschaft von Menschen über Menschen in der arbeitsteiligen Organisation unserer Gesellschaft.

Die freiheitliche Demokratie zielt nach der klassischen Tradition des Demokratischen Liberalismus auf eine Ordnung der größtmöglichen und gleichberechtigten politischen Teilhabe und Mitbestimmung aller Bürger an der verfassungsmäßigen Organisation des Staates.

Die freiheitliche Demokratie zielt nach der modernen Konzeption eines Sozialen Liberalismus zugleich auf eine Ordnung der größtmöglichen und gleichberechtigten sozialen Teilhabe und Mitbestimmung aller Bürger an der arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft.

Der doppelte Grundsatz, nach dem diese Demokratisierung des Staates durch den Demokratischen Liberalismus vollzogen worden ist, lautet nach Naumann: 1. Der Staat sind wir alle; 2. der Staat darf nicht alles.

Mit der Demokratisierung des Staates ("der Staat sind wir alle") und zugleich Liberalisierung des Staates ("der Staat darf nicht alles") wurde der frühere, unfreiheitliche Obrigkeitsstaat in den freiheitlichen Rechtsstaat umgeschaffen und die Freiheit des Staatsbürgers verfassungsmäßig gesichert.

Nach demselben doppelten Grundsatz vollzieht sich entsprechend die Demokratisierung der Gesellschaft, die sich der Soziale Liberalismus seit Friedrich Naumann zum Ziele setzt. Er lautet: 1. Der Betrieb sind wir alle; 2. der Betrieb darf nicht alles. Was damit gefordert ist, ist nicht mehr und nicht weniger als die Übertragung der in der Bändigung der Allmacht des Großbetriebes Staat entwickelten demokratischen und liberalen Organisationsformen von Gewaltenteilung und Rechtsbindung, von Grundrechtsverbürgung und Minderheitenschutz auch auf die Großbetriebe in der Gesellschaft.

Die "Gegenwartsaufgabe" der alten liberalen Theorie läßt sich für Naumann danach in dem obersten Leitsatz einer liberalen Gesellschaftspolitik zusammenfassen: "Industrieuntertanen müssen in Industriebürger verwandelt werden!"

These 4: Liberalismus fordert Reform des Kapitalismus. Die geschichtliche Leistung des Liberalismus war die Freisetzung des Menschen für die Entwicklung der modernen Industriegesellschaft. Der Kapitalismus hat, gestützt auf Wettbewerb und Leistungswillen des Einzelnen, zu großen wirtschaftlichen Erfolgen, aber auch zu gesellschaftlicher Ungerechtigkeit geführt. Die liberale Reform des Kapitalismus erstrebt die Aufhebung der Ungleichgewichte des Vorteils und der Ballung wirtschaftlicher Macht, die aus der Akkumulation von Geld und Besitz und der Konzentration des Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen folgen. Sie bringt damit die Gesetzlichkeiten einer privaten Wirtschaft in Einklang mit den Zielen einer liberalen Gesellschaft. Sie dient gleicherweise der Steigerung der Leistungsfähigkeit wie der Menschlichkeit eines solchen auf private Initiative der Wirtschaftsbürger und privates Eigentum an den Produktionsmitteln gegründeten Wirtschafts-und Gesellschaftssystems.

Das Vertrauen des klassischen Liberalismus, die Ziele einer liberalen Gesellschaft aus dem Selbstlauf einer privaten Wirtschaft zu erreichen, ist nach den geschichtlichen Erfahrungen nur in Grenzen gerechtfertigt. Es besteht kein selbstverständlicher Einklang zwischen persönlichem Vorteil und allgemeinem Wohl. Der moderne Liberalismus überläßt darum nur da die Erfüllung der Ziele liberaler Gesellschaft dem Selbstlauf privater Wirtschaft, wo diese durch Mechanismen des Marktes zureichend gesichert werden kann.

Wo Ziele liberaler Gesellschaft durch den Selbstlauf der privaten Wirtschaft nicht erreicht werden können, wo somit von einem freien Spiel der Kräfte Ausfallserscheinungen oder gar Perversionstendenzen für die Ziele liberaler Gesellschaft drohen, bedarf es gezielter Gegenmaßnahmen des Staates mit den Mitteln des Rechts.

Freiheit und Recht sind nach unseren geschichtlichen Erfahrungen bedroht durch die Tendenz zur Akkumulation von Besitz und Geld, die die Reichen immer reicher werden läßt, und die Tendenz zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln in wenigen Händen.

Die Tendenzen zur Akkumulation des privaten Kapitals, wie sie in der Verzinsung des Geldes, aber auch in der Wertsteigerung des Bodens sichtbar werden, sind einem über Gewinnstreben und Marktnachfrage gesteuerten Wirtschaftssystem ebenso eigentümlich wie die Tendenzen zur Konzentration des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln. Sie sind die Kehrseite der durch eben diese Mechanismen gesicherten Leistungsfähigkeit eines solchen Wirtschaftssystems.

Dem freien Selbstlauf überlassen müssen eben diese negativen Tendenzen, bei aller ungebrochenen Leistungsfähigkeit, dessen Menschlichkeit am Ende zerstören: durch permanente Überprivilegierung der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen, der Reichen gegenüber den Armen, der Produzenten gegenüber den Konsumenten, des Faktors Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit.

Das aber ist nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des auf einem privaten Wirtschaftssystem gegründeten liberalen Gesellschaftssystems. In einer Gesellschaft, in der Besitz und Geld der Schlüssel für fast alle Betätigung der Freiheit ist, ist die Frage des gerechten Anteils an der Ertragssteigerung der Wirtschaft und am Vermögenszuwachs der Gesellschaft nicht nur eine Gerechtigkeitsfrage: sie ist die Freiheitsfrage schlechthin.

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