Handkuss für die Chancelière

An ihrem ersten Arbeitstag fliegt die Kanzlerin gleich nach Paris. Politik und Presse sind erleichtert, denn in Frankreich wird befürchtet, dass sich Deutschland stärker Washington zuwendet. Doch zunächst demonstrieren Merkel und Chirac Kontinuität

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Ein Handkuss vom Präsidenten, kein Schulterklopfen wie für Schröder. Aber dasselbe freundliche Lächeln. Dieselben Begriffe aus der Kiste der deutsch-französischen Beziehung. Von „Kontinuität“ bis hin zu „gemeinsame Vision von Europa“. Und eine Einladung zu einer – bereits zugesagten – Gegenvisite im Dezember nach Berlin. So lief es gestern in Paris für Angela Merkel, an ihrem ersten Arbeitstag als Bundeskanzlerin.

„Ich bin sensibel dafür“, bedankte sich Jacques Chirac für den schnellen Besuch. Merkel, die anschließend weiter nach Brüssel flog, lächelte.

Die „chancelière“ beginnt ihr Amt in Paris, hatte Le Monde erfreut auf der Titelseite geschrieben. Und mit den Zeitungen zeigten sich gestern zahlreiche PolitikerInnen erleichtert über die erste Geste der deutschen Regierungschefin. In Paris war lange befürchtet worden, ein Wechsel in Berlin könnte zu einer Umorientierung der deutschen Außenpolitik führen. Weg von Paris und hin zu London und Washington. Ähnliches hatte man auch sieben Jahre zuvor im damals rot-rosa-grün regierten Paris befürchtet. Da war Gerhard Schröder erstmals Kanzler geworden: Ein „englischsprachiger“ Mann, hieß es, einer, dem Frankreich fremd ist. Nach mehrjährigen Anlaufschwierigkeiten rauften sich der neogaullistische französische Präsident und der deutsche Sozialdemokrat so weit zusammen, dass sie in der EU sogar gemeinsam die französischen Agrarinteressen vertraten.

Schon im Glückwunschschreiben vom Vortag hatte Chirac Merkel „meine liebe Freundin“ genannt, die „Tiefe und Solidität“ der deutsch-französischen Beziehung gelobt und vorgeschlagen, „sie immer enger zu gestalten“. Das kumpelhafte „Du“, dessen sich der Italiener Silvio Berlusconi bedient, benutzte Chirac nicht. Gestern versicherte Merkel in Paris, dass ihr Besuch „kein Ritual“ sei und dass auch sie die deutsch-französische Zusammenarbeit als „Kontinuität“ sehe. Zur größten bekannten Divergenz zwischen Merkel und Chirac, der Türkei-Frage, in der die Deutsche für eine „privilegierte Partnerschaft“ und der Franzose für eine EU-Mitgliedschaft eintritt, erklärte Merkel, dass sie sich „den gemeinsamen Entscheidungen beugen“ werde.

Die französische Öffentlichkeit interessiert sich vor allem für die sozialen Aspekte des Regierungsprogramms der Berliner Koalition. „Wollt ihr tatsächlich bis 67 arbeiten?“, werden Deutsche in Frankreich in diesen Tagen öfter gefragt. Und: „Warum lasst ihr euch das gefallen?“

Auch die politische und zeitliche Perspektive der Berliner Regierung interessiert in Frankreich. Viel diskutierte Fragen sind: Wie können SPD und CDU zusammenarbeiten? Wie lange kann das halten? Und: Wie kann sich eine auf drei kleine Gruppen verteilte Opposition gegenüber einer Regierung manifestieren, die mehr als 70 Prozent der Abgeordneten repräsentiert?

Der einzige lebende französische Expräsident, der Rechtsliberale Valéry Giscard d’Estaing, erklärte gestern: „Wir haben alle Interesse daran, dass Merkel Erfolg hat.“ Danach zählte er die gemeinsamen Probleme Deutschlands und Frankreichs auf: „zu schwaches Wachstum, inakzeptabel hohe Arbeitslosigkeit und notwendige Strukturmodernisierungen, um im Sturm der Globalisierung zu bestehen“ – und äußerte die Hoffnung, Merkel werde dafür sorgen, dass die von den Franzosen abgelehnte EU-Verfassung doch in Kraft tritt. Ab dem Frühjahr 2007, fügte Giscard d’Estaing hinzu, „wenn in Paris alle politischen Institutionen neu besetzt sind“.