Pro und Contra eines jungen Pianisten: Auftritt eines Wunderkinds

James Blakes Debütalbum ist der erste große Höhepunkt des neuen Musikjahrs. Er vereint Songwriting und Dubstep. Ist der Hype um ihn angemessen?

Der junge britische Pianist James Blake – viel gehört und heiß umstritten. Bild: universal

Pro:

Eigentlich schien alles ganz einfach. Da gab es vor gut einem Jahr auf einmal diese Maxisingles von diesem 21-jährigen Musiker aus London, der Clubtracks produzierte. "The Bells Sketch" oder "CMYK" hießen sie, und man konnte sie mühelos als britische Bassmusik, genauer gesagt Dubstep, einsortieren, auch wenn irgendetwas an ihnen anders war als bei vielen seiner Kollegen.

Ähnlich wie die befreundeten Mount Kimbie, die im selben musikalischen Spektrum tätig sind, ist James Blake am Austesten von Grenzen interessiert. Er spielte mit Vorliebe am ohnehin schon wackeligen Dubstep-Rhythmusgerüst herum oder zerschnippelte Stimmen, um sie zu jubilatorischen Sprengseln neu zusammenzusetzen.

James Blake ist ein toller Musiker

Dabei war klar, der junge Produzent versteht etwas von der Musik, die er mal in die eine, mal in die andere Richtung wuchern lässt. In der Zwischenzeit sprach sich herum, dass Blake ziemlich gut Klavier spielt, was er am Londoner Goldsmith College studierte. Damit war es beschlossene Sache, dass man es hier mit einem sehr begabten jungen Musiker zu tun haben müsse.

Dann entschied sich der 1988 geborene Brite zudem, einer seiner EPs den ambitionierten Titel "Klavierwerke" zu verleihen, und plötzlich war er nicht mehr der hoffnungsvolle Dubstep-Produzent, sondern wurde eifrig zur neuen Sensation hochgeschrieben. Skepsis anlässlich des Hypes scheint da zunächst verständlich. Hat man es bei Blake obendrein seit einigen Wochen mit einer etwas arg strapazierten "Wunderkind"-PR-Maschine zu tun, um das W-Wort dann doch hier einmal hinzuschreiben.

Wäre aber alles gar nicht nötig. Denn James Blake ist ein toller Musiker, jemand, der seiner Begeisterung für Dubstep - ein Genre, das sich gegenwärtig in alle erdenklichen Richtungen verzweigt - mit sehr fein gesponnenen Popsongs Ausdruck verleihen kann. Wie er mit Pausen und Stille arbeitet, ist in Mainstream-Produktionen unüblich. Das gilt besonders für seine Coverversion von Feists "Limit to Your Love", mit der er demonstriert, was Bassmusik heute alles sein kann: irritierende Tiefe, ein sich scheinbar auflösender Takt, alles in einem intakten Songgefüge. Außer sparsamen Beats, einer Hand voll Klavierakkorden und sehr tiefen Frequenzen benötigt Blake dafür nicht viel, wenn man einmal von seiner Stimme absieht.

Gegenüber seinen frühen Tracks ist das die merkbarste Veränderung: Auf seinem Debütalbum lernt man Blake nicht nur als klugen Arrangeur und vorbildlich beherrschten Pianisten kennen, sondern auch als begnadeten Sänger. Statt sich auf die unter Briten höchst beliebte Nasalität zu verlegen, gibt er sich als an Soul und Gospel geschulter Fürsprecher stimmlicher Expressivität zu erkennen. In Stücken wie "Measurements" kann er sich fast vollständig auf A-cappella-Arrangements verlassen, ohne sich Größenwahn vorhalten lassen zu müssen.

Allerdings erweist er auch dem R&B-Mainstream die Ehre und schreckt nicht davor zurück, seine Stimme mit dem allseits beliebten Software-Hilfsmittel Autotune zu bearbeiten. Sogar das gelingt ihm auf bezwingende Weise. Sich dem Hype um James Blake aus einer rein antizyklischen Geisteshaltung heraus zu verweigern, wäre daher eine vorschnelle Entscheidung.

Man darf sich von seiner Musik guten Gewissens begeistern lassen: Hier macht jemand Pop mit eigenständigen Gesten und schreibt zugleich die Clubmusik Dubstep ins radiotaugliche Songformat ein, ohne ästhetische Kompromisse einzugehen. Man braucht sich bloß noch einmal seine früheren Singles vorzunehmen, um zuversichtlich zu sein, dass man von James Blake noch weitere schöne Überraschungen erwarten kann. (Tim Casper Boheme)

Contra:

James Blake ist ein privilegierter Schnösel mit Klavierunterricht, der auch schon mal in einem Club war. Aber sind das Gründe, ihn nicht zu mögen? Vielleicht. Den Clubnächten verdankt das Debütalbum des 22-jährigen Londoners seine schönsten Momente: die kurze Stille in "Limit to your Love", bevor ein mächtiger Subbass Herz und Haut flattrig werden lässt, oder wenn in "To care (like you)" seine schmachtende Stimme in einen Footwork-Rhythmus übergeht.

Und weil James Blake Musik studiert hat, kann er aus der distanzierten Beobachterposition auf die britische Clubmusik schauen und aus den Versatzstücken ihrer Geschichte etwas vorher Ungehörtes basteln. So wie er es auf seinen ersten Singles getan hat. Knapp ein Jahr ist das her. Damals überkam einen die sanfte Ahnung, dass die Musik von Blake und ähnlich arbeitenden Produzenten wie Joy Orbison oder Untold etwas Neues darstellt. Kurz darauf zirkulierte die nicht gerade originelle Bezeichnung "Post-Dubstep". Damit wäre die große Erzählung des britischen "Hardcore Continuum", das immer neue Manifestationen von Bass und Breakbeat hervorbringt, fortgeschrieben.

Gestus des Indierock der letzten Dekade

Aber James Blake hat sich aus dieser Erzählung verabschiedet. Er ist jetzt Songwriter, wenn auch kein sonderlich talentierter. "Limit to your Love" ist zwar ein aus Funk und Facebook bekannter Hit, aber halt auch eine Coverversion, oder besser ein Remix, der kanadischen Indie-Chanteuse Leslie Feist. Blake hat die Songstruktur erhalten und die Streicher mit Klavier, Subbass und seiner Stimme ersetzt. Und hat damit ein Erfolgsrezept gefunden, das er auf seinem Debütalbum nun lediglich variiert. Immer dann, wenn seine Songs auf einen Refrain zusteuern, erwarten seine Zuhörer mehrere in Reverb getränkte Schichten aus Vocalspuren, die mit dem Vocoder bearbeitet wurden. Dieses Songwriting mag für Charts-Pop recht unkonventionell sein, im Vergleich zu Dubstep-Produktionen wie denen der Digital Mystikz, in denen jeder Hallraum feinsinnig abgemessen wird, wirkt es grobschlächtig.

Selbst mit den populären Dubstep-Tracks der letzten Jahre hat Blakes Musik nichts gemein. Die hypnotisierende Bassline von Bengas und Cokis "Night" bringt seit 2007 regelmäßig Zehntausende beim Notting Hill Carnival vor die Boxentürme. Und Katy B enterte mit "On a Mission", einer Hymne an durchfeierte Clubnächte, im Spätsommer 2010 die Spitze der britischen Charts.

Beide schrecken vor der großen Geste, die Euphorie einer Clubnacht wiederholbar machen zu wollen, nicht zurück. James Blake dagegen übt sich in vornehmer Zurückhaltung und pflegt den Gestus des Indierock der letzten Dekade. Männer zeigen zwar Gefühle, Frauen kommen dennoch zumeist nur als Verflossene vor - der eigene Bauchnabel als Ende der Geschichte. Transportiert wird dieser Gestus vor allem durch Blakes Stimme, die trotz digitaler Effekte immer als emotional beschrieben wird. Diese als authentisch markierte Emotionalität wird selbstverständlich über die Abwertung eines anderen konstruiert: den künstlichen Emotionen durch den Einsatz der Software Autotune.

Doch gerade Autotune transzendiert zum Beispiel auf Skreams letztem Album "Outside the Box" Hautfarbe und Geschlecht, während Blakes Stimme im Jungszimmer geerdet bleibt. Da ist es nur konsequent, dass Blakes wertkonservative Form von Innerlichkeit im Vokabular einer prämodernen Kulturkritik beworben wird. In der Musikpresse wird Blake so zum "Wunderkind". Der Erfolg von James Blake hat seinen Grund darin, dass er es leichtmacht, das von Widersprüchen und Diversität durchzogene Genre britischer Bassmusik in den Gefühlshaushalt einer Mittelschichtsjugend einzugemeinden. (Christian Werthschulte)

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