Flüchtlingsdrama Libyen: Alleingelassen am Rand der Wüste

Der Strom an Flüchtlingen aus Libyen nach Tunesien reißt nicht ab. Der tunesische Staat kann kaum helfen. Die Tunesier zeigen zwar Solidarität, aber die reicht nicht.

Den libyschen Flüchtlingen in Ras Ajdir fehlt es an allem. Bild: dapd

RAS AJDIR taz | Ein hundert Meter breiter Grenzstreifen trennt in Ras Ajdir Tunesien von Libyen. Der Asphalt fehlt, nur steiniger Grund. Der Wind wirbelt Staub auf. Es riecht schlecht. Hüben weht die rote Fahne mit dem tunesischen Halbmond, die zum Symbol der arabischen Revolution geworden ist, drüben das grüne Tuch des Reiches von Muammar al-Gaddafi. Hüben stehen Soldaten und Nationalgardisten, drüben ist, außer den ununterbrochen ankommenden Menschen mit schwerem Gepäck, niemand zu sehen. Es sind Chinesen, Vietnamesen, Inder, Bangladescher und vor allem Ägypter. Die tunesischen Beamten schauen kaum in die Pässe und winken sie freundlich durch.

"Die mögen keine Ausländer mehr. Und vor allem uns Ägypter hassen sie plötzlich", berichtet Aid Sahat. Seit der Revolution in Ägypten habe Gaddafis Polizei sie als Gefahr betrachtet. Der 30-jährige kleine, stämmige Mann arbeitete seit anderthalb Jahren an der Gepäckaufgabe am Sammeltaxibahnhof in Tripolis. "Ich hatte nur noch Angst", sagt er. Auf der Straße habe er immer wieder Schüsse gehört. Er habe sein Zimmer in Tripolis seit Tagen nicht mehr verlassen. "Ich bin in einem Privatauto gekommen", fährt er fort.

150 Dinar, umgerechnet 75 Euro, kostete die Reise pro Person. Durch seine Arbeit weiß er, dass dies fünfmal so viel ist wie in normalen Zeiten: "Unterwegs hat uns die Polizei alles abgenommen, unser Geld, das Handy, Speicherkarten."

In seiner Heimat im Süden Ägyptens gab es keine Arbeit. Mit seinem Lohn aus Libyen konnte er seiner Frau und seiner Tochter regelmäßig etwas Geld schicken. Jetzt hat er alles dabei, was ihm geblieben ist: einen schweren Koffer, eine überdimensionale Tasche und einen Ventilator. Sein Chef blieb ihm selbst den letzten Lohn schuldig. "Nach Ägypten ausreisen? Abwarten, ob es besser wird, und dann zurück nach Tripolis? Ich weiß nicht, was ich tun soll", sagt Sahat noch, bevor er in Richtung eines Straßenschildes verschwindet, das ein Stück weiter die Reisenden mit einem "Herzlich willkommen in Tunesien" begrüßt.

Eine Tonne Müll am Tag

Ein anderes Schild erklärt die Verkehrsregeln. Doch Autos kommen hier schon lange nicht mehr durch. Auf der Fahrbahn, den Seitenstreifen, den umliegenden Dünen sitzen Zehntausende auf ihren Gepäckstücken, schlafen auf Decken oder haben sich notdürftige Zelte aus Ästen, Beduinenhalstüchern und irgendwelchen Stoffen zusammengebastelt.

Fliegende Händler verkaufen Zigaretten. Der Schwarzmarkt für den Wechsel libyscher Dinare in tunesische Dinare blüht. Die drei tunesischen Mobilfunkunternehmen haben Stände aufgebaut, an denen sie für umgerechnet 2,50 Euro Prepaidkarten verkaufen. Sie finden reißenden Absatz. Jeder versucht, die Familie zu Hause zu beruhigen oder einen Freund oder Kollegen wiederzufinden, der ebenfalls aus Libyen ausgereist ist. Überall liegt Müll. Eine Tonne fällt pro Tag an.

Mitten in diesem Durcheinander lebt Osama Hassan Zidan. Er stammt aus Mansoura in der Nähe von Kairo und kam vor fünf Tagen mit einer Gruppe von Freunden und Kollegen aus Tripolis. "Bei uns auf der Avenue Omar Mokhtar im Norden der Stadt waren ständig Schüsse zu hören", berichtet der 32-jährige Möbelschreiner. Gerüchte über Todesopfer im Stadtteil seien ihnen zu Ohren gekommen. "Ab 17 Uhr herrschte völlige Ausgangssperre. Schwarzafrikanische Söldner patrouillierten den ganzen Tag."

Auch die Flucht an die Grenze sei gefährlich gewesen. Die Städte auf dem Weg von Tripolis nach Ras Ajdir seien zwar in den Händen der Aufständischen, doch die Straße werde von Gaddafis Leuten kontrolliert.

"Vor allem gegen Abend kommt es immer wieder zu Gefechten", weiß Zidan zu berichten. 320 Kontrollpunkte von Armee, Polizei und Söldnern will er auf den 180 Kilometern von der libyschen Hauptstadt nach Tunesien gesehen haben. Auch ihm wurden Handy und Geld abgenommen: "Ich habe 600 Dinar verloren. Sie haben mir gesagt: Das ist libysches Geld. Wenn du es dir verdienen willst, kämpfe für Oberst Gaddafi."

Er weiß nicht, wie lange er hier an der Grenze noch ausharren muss, bevor er ausgeflogen oder mit dem Schiff nach Hause gebracht wird. Zidan beklagt sich dennoch nicht. "Ich bin den Tunesiern dankbar für das, was sie für uns tun. Die Lage hier ist sicher schlimm. Aber dort drüben war es viel, viel schlimmer", sagt er, bevor er noch allen Ägyptern dringend empfiehlt, "auszureisen, solange es noch geht".

Längst nicht alle sind so geduldig wie Zidan. Wenige Meter neben dem Übergang, dort, wo in Zelten Lebensmittel an die Flüchtlinge verteilt werden, bilden sich immer wieder spontane Gruppen, die mit ägyptischen Fahnen durch die Menge laufen. "Wo ist unsere Regierung?", rufen sie. "Seit sieben Tagen alleingelassen" hat ein junger Mann auf ein Pappschild geschrieben. Deutlich sind ihm die Tage an der Sonne und vor allem die langen, kalten Nächte am Rande der Sahara anzusehen.

Hilfe vom Koranverein

"Alleingelassen", das ist auch das Wort, das Djamel Yahia am häufigsten benutzt. Der Lehrer für Arabisch an einem Gymnasium im ersten Ort auf tunesischer Seite, in dem 30 Kilometer entfernten Ben Gardane, gehört dem örtlichen Koranverein an. "In den ersten Tagen waren wir völlig auf uns allein gestellt", berichtet der Helfer der ersten Stunde.

Zuerst kamen tausende von Tunesiern an der Grenze an, dann die Massen von Ägyptern. Weit über 100.000 Menschen sind bisher in Tunesien angekommen. An manchen Tagen waren es bis zu 15.000. "Reisende", nennt Yahia diese Menschen. Das Wort "Flüchtlinge" gefällt ihm nicht.

Das Revolutionskomitee, das seit dem Sturz des alten tunesischen Regimes die 80.000-Einwohner-Gemeinde Ben Gardane verwaltet, mobilisierte die lokalen Vereine, das städtische Krankenhaus und sammelte Spenden unter der örtlichen Bevölkerung. "Nach und nach kamen dann Hilfskonvois aus dem restlichen Tunesien", berichtet Yahia.

Lokalsender, Aufrufe in Facebook, Moscheen, Unternehmen, Schulen und Universitäten organisieren die spontane Hilfe. Mit Pick-ups, Taxen, Privatautos und selbst großen Lastwagen werden Decken, Matratzen und vor allem Nahrungsmittel gebracht.

Die Hilfsgüter füllen eine riesige Halle, an der die Grenzer normalerweise den Schwerlastverkehr kontrollieren. Überall in dem völlig unübersichtlichen Menschengewühl stehen Zelte wie das des Koranvereins. Hier werden Mahlzeiten ausgegeben, Wasser, Milch und Säfte verteilt. "Wir brauchen dringend Transportmittel", sagt Yahia.

Ununterbrochen bringen Busse der Verkehrsbetriebe aus Tunis Menschen zum Flughafen auf der Urlaubsinsel Djerba, zwei Autostunden nördlich der Grenze. An die 40 Flugzeuge verlassen täglich das Land in Richtung Ägypten. Vom Hafen in Zarzis, auf halbem Wege gelegen, fahren Schiffe. Doch es ist einfach nicht genug. Es kommen mehr Menschen an, als weggebracht werden können. "Ohne internationale Unterstützung wird dies Monate dauern", glaubt Yahia.

Die Europäische Union und das UN-Flüchtlingshilfswerk kommen nur langsam in Gang. Erst Ende dieser Woche stellten sie ein Hilfsprogramm auf. Die EU verdreifachte die Soforthilfe auf 30 Millionen Euro. Die UN, das Rote Kreuz und die humanitäre Organisation Islamic Relief haben erste Zeltstädte errichtet. Die Bundeswehr hat drei Schiffe versprochen. Frankreich und die USA haben erklärt, Flüchtlinge ausfliegen zu wollen.

"Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit", warnt Ali Tlig. Mit Kollegen und Mitgliedern des tunesischen Zivilschutzes hat der 48-jährige Krankenpfleger vom Krankenhaus in Ben Gardane gleich nach Beginn der Flüchtlingskrise eine Feldapotheke errichtet. "Über 3.000 Kranke haben wir bisher versorgt", berichtet er.

Wo bleibt Europa?

Hitzschlag, Durchfallerkrankungen, chronische Erkrankungen, Mangel an Medikamenten - die Liste der Probleme ist lang. "Mit jedem Tag, der vergeht, steigt die Epidemiegefahr", fürchtet Tlig. Wie alle Helfer arbeitet er mit Atemschutzmaske und Handschuhen. Die schlechte Luft, die über der Menschenansammlung liegt, lässt ahnen, dass dies keine übertriebene Maßnahme ist.

"Bisher haben wir hier vor allem Journalisten gesehen, aber kaum ausländische Helfer", beschwert sich Tlig. Auch er fühlt sich "alleingelassen". "Tunesien ist in einer prekären Situation", mahnt er. Nach der Revolution sei der Staat so gut wie zusammengebrochen, das Land befinde sich im Umbruch und Neuaufbau. "Ich habe eine so breite Solidarität der tunesischen Bevölkerung noch nie erlebt. Unter der Diktatur wäre das unmöglich gewesen", fügt er dann mit Stolz in der Stimme hinzu.

Nachdem er an ein paar Soldaten Masken ausgeteilt hat, kommt Tlig zurück. "Wenn wir über Menschenrechte reden, sind die USA und die EU Weltmeister. Aber wenn es um konkretes Handeln geht, wo bleiben sie dann?", fragt er noch. Über seinem Medikamentenregal prangt die tunesische Fahne.

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