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Archiv-Artikel

Die Pistole des Gastwirts, die dann verschwand

MYTHEN Steven Naifeh und Gregory White Smith widerlegen in ihrer voluminösen Biografie Vincent van Goghs die These der Selbsttötung

VON INGO AREND

Ein brodelndes Hirn, das seine Lava unwiderstehlich in alle Schluchten der Kunst ergießt, ein schreckliches, halbtolles Genie, oft erhaben, zuweilen grotesk, immer fast das Krankhafte streifend.“ Als der Kunstkritiker Albert Aurier Ende 1889 zur Feder griff, sparte er nicht mit schwülstiger Rhetorik. Kurz zuvor war der Maler Vincent van Gogh erst in ein Krankenhaus in Arles, wenig später dann in eine Nervenheilanstalt eingeliefert worden, weil er sich in einem Anfall von Selbstverstümmelung ein Ohr abgeschnitten und einer Prostituierten überreicht hatte. Nun pries ihn der 24-jährige Shootingstar der Pariser Kunstszene als neuen „Sämann der Wahrheit“.

Mit seinem Artikel in der Zeitschrift Mercure de France legte der Dichter, Maler und Dandy Aurier zwar auch gezielt den Grundstein seiner eigenen Berühmtheit. Mit einem einzigen Text beförderte er aber auch einen kaum bekannten Mann und radikalen Außenseiter auf den Olymp der Kunst und begründete einen Mythos, der bis heute nachwirkt. Neben Pablo Picasso erfüllt vielleicht nur noch der 1853 in den Niederlanden Geborene so perfekt das Klischeebild vom Künstler als wahnsinnigem Genie.

Verständlich daher die Reaktion der bestallten Gralshüter dieses Ausnahmewesens, als im letzten Jahr zwei Amerikaner ein sehr dickes Buch über van Gogh vorlegten. Zwar kamen die Kuratoren des Amsterdamer Van-Gogh-Museums nicht umhin, die rund 1.000-seitige Biografie von Steven Naifeh und Gregory White Smith „dramatisch“ und „faszinierend“ zu nennen. Für die beiden Publizisten hat sich van Gogh nämlich, so das wichtigste Ergebnis ihres Buchs, nicht selbst umgebracht, als er im Juli 1890 in der Kleinstadt Auvers-sur-Oise nordwestlich von Paris zu einem Spaziergang aufbrach. Vielmehr sei er mutmaßlich von zwei jugendlichen Rowdys aus Versehen erschossen worden. Nahm die Tat aber auf sich, um die Minderjährigen zu schützen. Doch so schnell wollen die Amsterdamer Wissenschaftler die Selbstmordtheorie noch nicht zu den Akten legen.

Keine Detailfrage

Die – durchaus plausibel belegte – Hypothese über Vincents Tod klingt wie eine Detailfrage. Schlaglichtartig wirft sie jedoch ein anderes Bild auf den Mann, der zu einer Ikone des globalen Kunstmarktes aufgestiegen ist. Erst im Dezember vergangenen Jahres wurde in New York ein einzelner Brief van Goghs für über 300.000 Dollar versteigert. Van Gogh war dann nämlich nicht das verkannte Genie, das an der Ignoranz seiner Umwelt zu Grunde gegangen ist. Und dem am Ende nichts anderes übrig blieb, als sich mit Selbstmord an der Welt zu rächen. Ein Mythos, der sich bis heute tief in Wissenschaft und Populärkultur eingeschrieben hat: In der Schlussszene von Vincente Minellis Film „Vincent van Gogh. Ein Leben in Leidenschaft“ aus dem Jahr 1956 lehnt der rothaarige Kirk Douglas als Vincent an einem Baum und hebt mit tragisch umflortem Blick langsam die ominöse Pistole, die im richtigen Leben einem Gastwirt gehörte und nach der Tat auf unerklärliche Weise verschwand.

Naifeh und Smith sind keine Unbekannten. Schon 1989 legten die beiden Absolventen der Harvard Law School die mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Biografie „Jackson Pollock. Eine amerikanische Legende“ vor. Damals wurde ihnen der Vorwurf gemacht, das „Dripping“-Werk des abstrakten Expressionisten allzu bruchlos psychoanalytisch herzuleiten. Vielleicht haben sie sich deshalb im Fall van Goghs auf eine fast schon bürokratisch zu nennende Fleißarbeit zurückgezogen.

Ihre Biografie, darin reichlich altmodisch, stützt sich auf keinerlei neuere theoretische Konzepte über Künstlerschaft, Genius, Malerei oder die „maskierte Epilepsie“, van Goghs schon zu seinen Lebzeiten diagnostizierter Krankheit. Sondern setzt auf das, was man den Roman des Lebens nennen könnte: die geradezu minutiöse Erzählung eines seit der Jugend unglaublichen Leidens- und Irrweges. Zehn Jahre ihres Lebens hat das Autorenduo diese Arbeit gekostet. Sie stützen sich vor allem auf van Goghs Briefe mit seinem Bruder Theo, dem Kunsthändler, der van Gogh finanziell aushielt. Die 6.000 Seiten mit Fußnoten musste ihr amerikanischer Verlag auf eine gesonderte Website auslagern.

Unfreiwilliger Eremit

Ob Naifehs und White Smiths Werk wirklich „die maßgebliche Biografie für Jahrzehnte“ abgeben wird, wie der Verlag werbewirksam verbreitet, lässt sich angesichts des eingeschränkten Ansatzes bezweifeln. Auf jeden Fall kann aber, wer van Goghs Leben und Werk nicht kennt, sich mit diesem voluminösen Dünndruck-Folianten einen wahrhaft erschöpfenden, stellenweise fast ermüdenden Überblick über dieses lebenslange Martyrium verschaffen. Von der Jugend, in der er Pfarrer werden wollte, bis zu dem Mann, der eine Bruderschaft der Künstler begründen wollte. Beide Pläne gingen gründlich schief.

Die Autoren verklären den Künstler auch nicht, sondern nähern sich ihm erkenntnisfördernd nüchtern. Bei ihnen taugt van Gogh keineswegs als rolemodel des Künstlers, den der genialische Impuls durchzuckt. Sondern eher als das eines unfreiwilligen Eremiten, der durch ein Labyrinth ästhetischer Irrtümer taumelte. Und das Werk, welches heute für Millionen ersteigert wird, mehr zufällig als strategisch gezielt erschuf. Es war alles andere als ein Königsweg von dem düsteren Realismus der „Kartoffelesser“ von 1885 bis zum Propheten der glühenden Komplementärfarben der „Sternennacht“ von 1889.

Starrsinnig verfolgte er eine Zickzacklinie zwischen Impressionismus, Pointillismus, Symbolismus und japanischer Zeichnung. Theo van Gogh nannte die Arbeiten seines Bruders, die zeit seines Lebens bis auf eine Ausnahme nie einen Käufer fanden, nicht zu Unrecht oft „unausgereift“. Besonders mit Menschendarstellungen hatte er oft große Schwierigkeiten. Doch auch wenn der Gekränkte seine Kritiker oft wüst beschimpfte und radikal mit ihnen brach – am stärksten nagte die Unsicherheit ob der Qualität seines Könnens in van Gogh selbst. Was ihn aber nicht daran hinderte, sich umso verbissener in die Arbeit zu stürzen. Für all die wohltemperierten Artists-in-Residence-Künstler des 21. Jahrhunderts, die dieses Buch nach Zutaten einer leicht kopierbaren Genieästhetik durchforsten, hält dieses Buch eine zwiespältige Botschaft bereit: Wenn Vincent überhaupt ein „Sämann“ war, dann einer des ästhetischen Fanatismus, vor allem gegen sich selbst.

Steven Naifeh, Gregory White Smith: „Van Gogh. Sein Leben“. Aus dem Amerikanischen von B. Jendricke, C. Prummer-Lehmair, S. Schuhmacher und R. Seuß. S. Fischer, Frankfurt am Main 2012, 1.214 S., 34 Euro. www.vangoghbiography.com