die wahrheit: AUSFLIPPEN FÜR ANFÄNGER
Wie geht eigentlich Zusammenbrechen? Merkt man das vorher, tut man das spontan oder kündigt man das vorher an...
...Früher dachte ich, ich wüsste das. Cholerische Familienangehörige, die mit Gegenständen warfen, ehe sie sich stundenlang im Klo einsperrten, gaben ein gutes Beispiel. Allerdings nannte man das damals Ausflippen und nicht Zusammenbrechen, und meinem Mitleid mit den Tellerschmeißern wurden enge Grenzen gesetzt, besonders, weil sie selbst danach wie befreit wirkten und wieder bester Laune waren. Und taten, als sei nichts gewesen. Dennoch hing immerzu die Drohung über den stets in Deckung befindlichen übrigen Familienmitgliedern, dass es diesmal nun wirklich so weit sei. Krankenwagen, Psychiatrie, das volle Programm.
Ankündigungen gab es damals auch schon, sie lauteten fast immer: "Ich kann nicht mehr!" Das gewagtere "Ich will nicht mehr!" wurde seltener geboten, legt es doch nahe, dass es eine Alternative gäbe. Da mussten dann schon gleich die Nahrungsmittel fliegen, um zu unterstreichen, dass es keine gab.
Ein amtlicher Zusammenbruch müsste anders aussehen, finde ich. Unberechenbar zum Beispiel. Das heißt, nicht dann einen Chinaböller in den Hamsterkäfig werfen, wenn sie dir dein Auto geklaut haben und du dir das Bein gebrochen hast, und deine Lieben, statt dich zu trösten, Behindertenwitze reißen. Sondern mehr so aus heiterem Himmel. Das ist viel effektvoller.
Ein schöner Frühlingstag, endlich ist es warm, man hat dir ein Eis spendiert, und du wirfst es wahlweise deinem Liebsten ins Gesicht oder auf die schön polierten Fensterscheiben des Cafés. Dazu rufst du: "Ich kann nicht mehr!" oder: "Ich kann echt nicht mehr!", schmeißt dich auf den Boden und trommelst mit den Fäusten. Das wird sie überraschen. Rücksichtsvolle Behandlung wäre dir in meiner Familie sicher gewesen. Bei Menschen, die nicht mit mir verwandt sind, besteht allerdings ein gewisses Risiko, dass du gefragt wirst, ob du noch ganz richtig tickst.
"Nö, wieso?", könnte dann eine ziemlich coole Antwort sein. Wahlweise auch: "Das geht euch überhaupt nichts an!" Oder man wirft den Phrasenzufallsgenerator an: "Lebt denn der alte Holzmichel noch? Wegen Verzögerungen im Betriebsablauf kommt es zu Verzögerungen! Carglass repariert, Carglass tauscht aus!"
Auf jeden Fall wäre ich froh, wenn es in unseren lieben Buchhandlungen, die ja vom Verkauf schöngeistiger Literatur schon lange nicht mehr leben können und deshalb oft nur noch aus einer großen Ratgeberecke bestehen, die auf die abgefeimtesten Kundenwünsche spezialisiert ist ("Bärlauchrezepte glutenfrei mit passender Musik", "Butter in Patchworkfamilien"), wenn dort also irgendwo ein Büchlein "Ausflippen für Anfänger!" auf mich und andere potenzielle Zusammenbruchkünstler warten würde. Mit Übungen ("Werfen Sie als Erstes einen Schwamm gegen die Wand") und Steigerungen ("Heulattacken mit und ohne Glasbruch"). Schließlich gibt es nicht überall solche Naturtalente wie damals bei uns daheim.
Die Wahrheit auf taz.de
Leser*innenkommentare
Sam Lowry
Gast
Kindergeburtstag:
Ich stehe im Guiness-Buch der Rekorde mit
- den meisten Selbstmordversuchen (überwiegend
durch Erhängen)
- der höchsten Fallhöhe eines komplett geschmückten
Tannenbaumes (mit Beleuchtung)
- dem unsinnigsten Vorstrafen-Register
- der längsten Zeit in einer Überwachungs-Zelle
- der geringsten Beute im Verhältnis zur Strafe
(85 Cent, wegen schwerem Raub, 5 Jahre)
- häufigste Unterbringung in der Entgiftung
und werde bald ein eigenes Guiness-Buch nur für mich erhalten.