: Die Kunst des Bodenwischens
TANZ Die junge Performerin An Kaler zeigt in den Uferstudios in Wedding ein minimalistisches Gesamtkunstwerk
Nach den schmutzigen, oft sogar pechschwarzen Füßen der Barfußperformer zu urteilen, legen nicht besonders viele zeitgenössische Tänzer Wert auf einen sauberen Tanzboden. Anders Yoshi Oida, der nun fast 80-jährige ehemalige Peter-Brooks-Schauspieler und Regisseur. Das erste Kapitel in seinem Trainingsbuch „Der unsichtbare Schauspieler“ widmet sich erst einmal dem Reinigungsritual. V-förmig gebeugt solle der Schauspieler mithilfe eines Baumwollbodentuchs den Proberaumboden Spur für Spur in voller Konzentration sauber meditieren. Wie beim Buchlesen dürfe währenddessen an nichts anderes gedacht werden. Die Konzentration soll dann zu einem anderen energetischen Zustand verhelfen, in dem mehr als nur die Eigenenergie spürbar sei. Querverweise zieht Yoshi Oida zu religiösen, unter anderem muslimischen Reinigungspraktiken. Auch die shintoistische japanische Mythologie, worin der Akt der Reinigung gleichzeitig ein konkreter Schöpfungsakt ist, benennt er als persönliche Quelle dieser Vorbereitungsübung. Das Wegwaschen schlechter Energien ist darin nach seiner Schilderung als ein Ermöglichen von Schaffenskräften zu verstehen.
Wie die androgyn wirkende Performer-Choreografin An Kaler es mit der präparatorischen Raumreinigung hält, ist schwer zu sagen. In den Weddinger Uferstudios trägt sie bei der zweiten Aufführung von „On Orientations – one place after“ dunkle Sneakers, dazu eine graumelierte Jeans und eine schwarze Bomberjacke – der Dreck könnte sich auf dieser Kleidung also ganz gut tarnen. Die Art aber, wie sie sich in findungsreichen V-Variationen elastisch über den Boden windet – robbt, schlängelt, kreiselt, faltet –, sieht aus, als wäre Kaler Bodentuch und Anwenderin zugleich. Auch ihre hohe Konzentration würde den japanischen Schauspieler sicher beeindrucken.
Diese Konzentration wird verstärkt durch den Raum von Tiago Romagnani, der durch einzelne Drahtschnüre sparsam gegliedert ist und die säkular-sakrale Aura einer Galerie ausstrahlt. Wie eine Etüde in projektiver Geometrie verlaufen die Schnüre diagonal durch den hinteren Raumteil, optisch verschränkt mit zwei weiteren kleinen Strahlenbündeln, die je nach wellenförmiger Lichtzufuhr (Licht: Jan Maertens) mehr oder weniger hervortreten.
Aufgeladen wird dieser skulpturale Raum mit lauter Musik von Brendan Dougherty, der auch in Meg Stuarts Trance-Stück „VIOLET“ die treibende Kraft ist. Auch hier wird nun rhythmisch drauflos gepeitscht, zeitweise houseartig, dann mal fast konkret wie rasende Züge mit quietschenden Rädern oder wie in den Boxen explodierende Pingpongbälle, die letztendlich von akustischen Kurzschlüssen durch die Lichtregie in visuelle umgewandelt werden.
Das ist opulentes Gegenprogramm zum puristischen Raumgeschehen, dabei aber genauso konsequent durchgehört wie An Kalers Bewegungen durchgestaltet sind. Auch das Licht, das in weich wogenden Wellen zunächst im Dienst der Raumskulptur steht, wird selbst zur visuellen Choreografie. Während das Boxengewitter in wackligen Blitzen nachklingt, färben sich die Fenster des Fabrikbaus in verschwommenem Neonpink – als würde eine amerikanische Großstadt schüchtern von außen hineinschauen.
Alles an diesem Abend verschraubt sich mehr und mehr in ein feinsinnig austariertes ästhetisches Kalkül, eine intermediale Geometrie zwischen Gewichten und Linien, Farbe und Klang, Krümmung und Brechung, Bewegung und Form. Am Ende liegt An Kaler wie ein ausgewrungener Bodenlappen, der seinen Dienst getan hat, im doppelten V ausgestreckt, und der Raum ist zugleich voller und klarer als 60 Minuten zuvor. ASTRID KAMINSKI