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Archiv-Artikel

Diese Familie wird entzaubert

Alles Mitläufer außer Heinrich? Die Politikwissenschaftlerin Katrin Himmler, Großnichte Heinrich Himmlers, schreibt mutig ihre Familiengeschichte um

Nimmt sechzig Jahre nach Kriegsende – in einer Zeit, da es immer weniger Täter, Zeitzeugen und Opfer gibt – die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ab? Nein. Im Gegenteil. Gerade jetzt werden die Mühen der Deutschen, mit der Katastrophengeschichte des NS-Regimes und seinem Erbe umzugehen, besonders deutlich. Die Kinder und Enkel melden sich zu Wort. Oft sind sie es erst, die den Blick auf unangetastete Dokumente wagen, in Archive gehen und beschönigende Familienlegenden widerlegen. Wie etwa Katrin Himmler, Großnichte von Heinrich Himmler, dem „Reichsführer“ der SS.

Die Politikwissenschaftlerin wurde 1997 von ihrem Vater gebeten, über Ernst Himmler, den jüngsten Bruder von Heinrich Himmler und ihren Großvater, zu recherchieren. Nach der Wiedervereinigung hatten die Amerikaner im Bundesarchiv einschlägige Akten freigegeben. Kennen gelernt hat Katrin Himmler (Jahrgang 1967) ihren Großvater nie; er starb im Mai 1945 in den Wirren des Kriegsendes, unklar blieb, ob im Gefecht, durch einen Unfall oder durch Selbstmord.

Bei ihrer Recherche stößt die Berlinerin auf eine viel aktivere Teilhabe am NS-System, als ihr bislang bekannt war. „Obwohl ich um die Nähe meines Großvaters zu Heinrich Himmler wusste, hatte ich in meiner Wahrnehmung immer eine scharfe Trennungslinie zwischen ,Heinrich dem Schrecklichen‘ und ,Ernst dem Unpolitischen‘ gezogen“, beschreibt Himmler ihre Sicht auf Großonkel und Großvater. Nach und nach entzaubert sie das von der Familie verharmloste Bild ihres Großvaters und dessen älteren Bruder Gebhard.

Sachkundig führt ihr Buch „Die Brüder Himmler“ vor Augen, wie Gebhard und Heinrich in den Zwanzigerjahren einem Freikorps beitraten, gegen die Münchner Räterepublik kämpften und sich als Putschisten an vorderster Linie „verdient“ machten. Als frühe Anhänger der Partei profitierten die beiden nicht nur von den neuen Verhältnissen nach 1933, sondern unterstützten mit ihrer Tätigkeit im Reichserziehungsministerium und im Reichsrundfunk engagiert das NS-Regime. Privat waren sie mit verschiedenen ranghohen SS-Offizieren sowie dem Repräsentanten des „Dritten Reichs“ in Serbien und Montenegro – Hermann Behrends – befreundet. „Unabhängig von der späteren Behandlung solcher Fälle“, verweigert Ernst, einen „halbjüdischen“ Rundfunkkollegen zu protegieren. Und der ältere Bruder Gebhard ließ sich sein Eintrittsdatum in die NSDAP vordatieren, um als Unterstützer des Regimes von erster Stunde an zu gelten – und nicht etwa als „Märzveilchen“.

Immer wieder kommt die Autorin auf den „Jahrhundertmörder“, Großonkel Heinrich, zurück. Anhand von privaten Briefen führt sie vor, wie Heinrichs Aufstieg zu einem der wichtigsten Männer im NS-Regime in der Familie damals nicht kritisch, sondern mit Erleichterung nachverfolgt wurde. Der junge Mann, aus dem erst nichts Rechtes werden wollte – die Parallele zu Hitler drängt sich auf –, kletterte doch noch die Karriereleiter empor.

Katrin Himmler erzählt jedoch nicht nur die Geschichte der drei im NS-Staat so erfolgreichen Brüder, sie zeichnet auch das Einverständnis mit den politischen Verhältnissen bei den Ehefrauen, den Freunden und bei Heinrichs Geliebter Hedwig Potthast nach. Anhand der Geschichte des Schwagers Richard Wendler belegt die Autorin, wie mühelos manch NS-Karriere sich in der Bundesrepublik fortsetzen ließ: Richard Wendler, bis Mai 1943 Gouverneur des Kreises Krakau und bis Juli 1944 des Distriktes Lublin, hat nach dem Krieg allen Ernstes behauptet, von den Deportationen in und aus den ihn unterstehenden Gebieten nichts gewusst zu haben. Er konnte ein Urteil revidieren, wurde als „Mitläufer“ eingestuft und nahm seine Arbeit als Rechtsanwalt wieder auf. 1972 starb er friedlich in Prien/Bayern.

„Die Brüder Himmler“ ist wichtig, weil das Buch von der Singularisierung und Dämonisierung von NS-Tätern („Hitlerismus“), die so vielen „kleinen“ Einzeltätern als Entlastung diente und dient, vernehmlich Abstand nimmt. Es gelingt Katrin Himmler, beispielhaft deutlich zu machen, wie in der Wahrnehmung einer deutschen Familie aus Tätern „Unpolitische“ werden.

Auch sich selbst nimmt die Autorin nicht aus: Im letzten Kapitel schreibt sie über ihren Umgang mit dem Familiennamen Himmler, über unternommene Polenreisen und Kontakte mit Angehörigen von Opferfamilien. Die gelungene Gratwanderung zwischen Geschichtsschreibung und subjektiver Reflexion ist ein besonderes Verdienst des Buchs. Die Politikwissenschaftlerin und die Großnichte ergänzen sich.

TANJA DÜCKERS

Katrin Himmler: „Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005, 329 Seiten, 19,90 Euro