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Archiv-Artikel

Tuchfühlung mit Mondrian

Schuhe für Madonna, Praktisches für uns. Die Adventszeit ist Ausstellungs- und Messezeit für Kunsthandwerker. Eine gute Gelegenheit, sich auf den Weihnachtsmärkten umzusehen. Etwa in Lübeck, Hamburg oder Berlin

von REINHARD KRAUSE

Kann Schlangestehen besinnlich sein? In Lübeck geht das – ein kleines Adventswunder. Zwar brummt die Innenstadt schon an gewöhnlichen Sonnabenden vor Menschen, derzeit jedoch sind die Menschenknäuel noch einmal dichter gewirkt. Publikumsmagnet und Staustufe Nummer eins ist das Heiligen-Geist-Hospital kurz vor dem Burgtor. Hier findet der Weihnachtsmarkt statt, eine der ersten Adressen für Kunsthandwerk im Norden. Wer es bis hierhin geschafft hat und womöglich längst nervös ist vom ganzen vorweihnachtlichen Gedränge, der hat nun, nur noch Schritte entfernt von seinem Ziel, Gelegenheit zu innerer Sammlung. Umgeben von lauter Dänisch sprechenden Tagesausflüglern, wird einem das Herz ganz weit und ruhig. Zwanzig Minuten Anstehen? Zwanzig Minuten Vorfreude! Macht hoch die Tür.

Wer allerdings meint, mit Durchschreiten der Pforten ins Heiligen-Geist-Hospital falle alle Anspannung ab, irrt gründlich. Nun fängt das Schieben erst richtig an! Trippelnden Schrittes geht es durch die historische Kirche, vorbei an sehr bunten Pullovern aus Finnland, Korbwaren aus dem Baltikum, thüringischem Porzellan und allerhand hölzernen Weihnachtsdekorationen. Es mag avantgardistischere Kunsthandwerkermärkte geben, aber wo findet man eine solche internationale Mischung? Noch dazu an solch stimmungsvollem Ort. Einzigartig sind vor allem die „Kabäuschen“ genannten Bretterbuden in der Hospitalhalle, die einst mittellosen Alten als Obdach zur Verfügung gestellt wurden und die an etwas geräumigere Umkleidekabinen erinnern. Mehr als zwei potenzielle Kunden passen nicht in solch eine Bude. Dafür kann man mit dem Kunsthandwerk auf Tuchfühlung gehen.

Mondrian – der Name passt. „Mondrian, blau“, um exakt zu sein. Sechzehn unterschiedlich große Rechtecke in Schattierungen von Weiß, Perlgrau und Taubenblau mit zwei sich kreuzende Linien in Schwarz. Nur hängt ein Mondrian normalerweise an der Wand. Dieser hier liegt auf dem Tisch in einem der Lübecker Kabäuschen. Ein Mondrian für gut sechzig Euro. Nicht Öl auf Leinen, sondern nur Leinen, genauer: Halbleinen.

„Mondrian, blau“ ist eine Tischdecke. Und zwar eine, die umstandslos alle Vorurteile wegfegt, die einen beim Thema Tischdecke sonst beschleichen mögen. Diese hier ist frisch und modern, keineswegs tüttelig oder gar muffig. Sie stammt aus der Werkstatt von Almut Lembke. Die Handweberin aus dem schleswig-holsteinischen Bad Oldesloe ist der schlichten, klaren Linie mehr als vier Jahrzehnte treu geblieben, erst als Auszubildende, dann als Gesellin in der renommierten Handweberei Rudolf und Norah Bartholl und seit sieben Jahren nun unter eigenem Namen.

Ihre Tischdecken webt Almut Lembke in Leinenbindung: Hierbei kreuzen sich die Kettfäden (aus Baumwolle) mit dem so genannten Schuss (aus Leinen) im Verhältnis eins zu eins. Eine Technik, die im Ergebnis nur Flächen, Streifen und Karos hervorbringen kann – und der die Weberin dennoch immer wieder neue Variationen abgewinnt. Am Anfang eines Entwurfs steht oft eine Naturbeobachtung, die Ausführung jedoch kann – anders als in der Bildweberei – nur abstrakt sein. Wie bei „Indian Summer“ etwa, einer Studie in leuchtenden Herbstfarben von Rostbraun über Ocker bis Oliv, nicht zu vergessen die acht verschiedenen Orangetöne. Keines der sechzehn Farbfelder gleicht dem anderen.

Der „Trick“: Schuss- und Kettfäden differieren farblich leicht voneinander, so kann kein ungemischtes Feld entstehen und keine Farbwiederholung. Ähnlich funktioniert auch „Hauke Haien“, eine Tischdecke, die an Theodor Storms „Schimmelreiter“ denken lässt und an Husum, die „graue Stadt am grauen Meer“. Alle Farben wirken wie in hellgraue Nebelschleier gehüllt, und man bekommt eine Idee davon, dass Weben auch eine Frage exakten Färbens ist.

Wir müssen so viel besser sein, wie wir teurer sind.“ Die Erkenntnis, mit der Angela Merkel in den Bundestagswahlkampf zog, gilt für Kunsthandwerker schon immer. Denn natürlich würde eine Tischdecke aus industrieller Produktion, maschinengewebt und schnöde mit einem Karomuster bedruckt, vermutlich kaum halb so viel kosten wie „Zitrus“, „Grün auf Grün“ oder eben „Mondrian, blau“ von Almut Lembke. Aber beim Industrieprodukt wäre man womöglich gar nicht erst auf die Idee kommen, dass auch eine Tischdecke eine erstrebenswerte Anschaffung sein kann.

Der kunsthandwerkliche „Mehrwert“ besteht in der Individualität der Ausführung. Und nicht selten auch im persönlichen Kontakt zum Produzenten. Diesen zu fördern war von Anfang an das erklärte Ziel der Kunsthandwerkermessen. Und die sind keine Erfindung aus jüngerer Zeit: Der Lübecker Weihnachtsmarkt findet in diesem Jahr zum 38. Mal statt, im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe wurde sogar schon 1879 die erste Jahresmesse des Kunsthandwerks veranstaltet.

Das Juryverfahren in Hamburg zu überstehen kommt einem Ritterschlag gleich. Dafür erwartet den Kunsthandwerker dann aber auch ein intensiver Dauereinsatz am Kunden. Wenn man die knapp drei Wochen Weihnachtsmesse im Museum hinter sich hat, so die Bremer Keramikerin Elisabeth Pluquet-Ulrich, liegt man anschließend „tot unterm Tannenbaum“. Und hat womöglich eine deutlich aufgefrischte Kundenkartei.

Dies gilt in Sonderheit für die Gewinner des Justus Brinckmann Preises. Diesjähriger Preisträger ist der Hamburger Drechsler und Produktdesigner Stefan Fink, der für seine handgefertigten Schreibgeräte und Füllfederhalter ausgezeichnet wurde. Eine lobenswerte Entscheidung für die klassische, anwendungsbezogene Ausrichtung des Kunsthandwerks und gegen die Wiederkehr des sinnfreien Vitrinenobjekts.

Denn längst sind die Grenzen zur Kunst, zum Design oder einfach auch nur zum Tinnef fließend geworden. Selbst eine so redlich um das Fortbestehen kunsthandwerklicher Traditionen bemühte Institution wie das Museum für Kunst und Gewerbe bleibt von den Umschwüngen des Metiers nicht unberührt: Vor zwei Jahren wurde die traditionsreiche „Jahresmesse des norddeutschen Kunsthandwerks“ in „Messe für Kunst und Handwerk“ umgetauft – als wären nunmehr auch Bildhauer und Klempner aufgerufen, an der Messe teilzunehmen.

Die Unterhose hat kein Bündchen, und der Stoff ist nur ein Hauch aus zwei Lagen Gaze. Ein haltloses Etwas, wohl kaum für den alltäglichen Gebrauch bestimmt. Dafür ist das Ganze gesteppt, und in jedem der gesteppten Felder befinden sich ein paar Reiskörner. Der seltsame Schlüpfer nebst passendem BH könnte Teil eines rituellen Hochzeitsgewands sein. Oder banaler: ein „Kunstobjekt“. Der Titel der Arbeit jedenfalls liegt gleich daneben in der Vitrine: Reis-Wäsche.

Im Hintergrund werden deutlich vernehmbar Telefongespräche geführt. Es geht um Bankgeschäfte. Kein Wunder, denn wir befinden uns im Foyer der Berliner Volksbank, gleich gegenüber vom Zoo. Mag sein, dass Berlin nicht die Kapitale des Kunsthandwerks ist. In der Hauptstadt liegt zu Weihnachten auch niemand tot unterm Tannenbaum. Es sei denn, er oder sie führe für die Weihnachtssaison in andere Städte: Von den sechs Keramikerinnen etwa, die in diesem Jahr in der Koppel 66, der zweiten großen Hamburger Messe, ausstellen, kommen vier aus Berlin.

Aber immerhin gibt es einen Landespreis Gestaltendes Handwerk, mit einer flankierenden Ausstellung in ebenjenem Bankfoyer. Eine Leistungsschau, die einen guten Überblick über die Entwicklungen, aber auch über Irritationen im Bereich des Kunsthandwerks bietet. Die originelle „Reis-Wäsche“ jedenfalls hat den Landespreis am Ende nicht gewonnen. Ein wenig angewandter sollte die Kunst dann doch sein.

Auch hier entschied sich die Jury ganz klassisch für Materialgerechtigkeit: Ausgezeichnet wurde die Keramikerin Anna Katharina Sykora für ihre fein reliefierten und teils mit Engobe eingefärbten Vasen aus Limoges-Porzellan. Bei den weiteren Preisen verfuhr man experimentierfreudiger. Ein dritter Landespreis ging an die Goldschmiedin Karla Schabert und ihren mit Taschentuchgarn umhäkelten Glasschmuck. Eine schöne und auch noch hübsch anzuschauende Idee: ein Schmuck, der sich verbirgt.

Viel Anlass zum Grübeln gibt indessen der zweite Landespreis, der an den Orthopädieschuhmachermeister Jürgen Ernst und seine Damenschuhserie „Viceversa“ vergeben wurde. Für Skepsis sorgt nicht so sehr die neuartige Verbindung von Fersenaufsatz und Schuh, sondern die höchst theatralische Optik der silber glänzenden Ziegenlederpumps mit ihrem exzentrisch angebrachten Absatz aus Aluminium. Selbst in Berlin, wo so schnell nichts als Aufsehen erregend gelten soll, dürfte eine potenzielle Trägerin Schwierigkeiten haben, in diesen Schuhen unbekichert über eine Kreuzung zu gelangen. Insofern ist geradezu mit Erleichterung festzustellen, dass Jürgen Ernst dem Tagesspiegel jüngst verriet, die Pumps seien gar nicht für den Alltag konzipiert. Ein wiederkehrender Traum von ihm gehe folgendermaßen: „Madonna wird in Schuhen von mir auf die Bühne getragen, nach ihrem Auftritt wieder herunter. Schönheit, die keine funktionalen Aufgaben erfüllt.“

Käme Madonna aber wirklich in die Berliner Volksbank (ob nun zu Fuß oder sonstwie), hätte sie Kontaktprobleme mit dem Meister des Maßschuhs: Im Flyer zur Ausstellung stehen nicht einmal die Adressen der Kunsthandwerker! Aber für solche Lappalien hat Madonna ja ihre diversen … Zuträger.

REINHARD KRAUSE, 44, ist taz.mag-Redakteur. Sein Tipp: Bratenwender aus Nussbaumholz, auch nach Jahren noch bildschön