Betreuung dementer Senioren: Kein Bus nach Irgendwo

In Oldenburg stellen Seniorenheime Bushaltestellen auf, die bloß Attrappe sind. Die sollen demente Heimbewohner daran hindern, sich zu verlaufen.

Warten vergebens auf ein Verkehrsmittel: Oldenburger Stiftsbewohnerinnen. Bild: Maik Nolte

OLDENBURG taz | Eigentlich ist alles da: ein weithin erkennbares Schild mit dem grünen "H"-Symbol, ein Fahrplan, eine Übersichtskarte mit dem Streckennetz. Eine Straße aber gibt es nicht: An der Haltestelle in den Grünanlagen des Oldenburger Seniorenstifts "Friedas Frieden" wird nie ein Bus halten.

Hier und im benachbarten Elisabethstift, beides Einrichtungen der Diakonie, sind mehrere so genannte Phantom- oder Scheinhaltestellen eingerichtet worden - eine therapeutische Maßnahme in der Pflege Demenzkranker, sagt Petra Schumann, Leiterin der Häuser.

Und zudem eine Schutzmaßnahme während einer Krankheitsphase, in der die Desorientierung des Patienten wie auch seine Mobilität ausgeprägt sind. "Die Bewohner haben dann oft das Bedürfnis, nach Hause zu gehen", sagt Schumann. "Ein Zuhause, das es nicht mehr gibt." Das Haltestellenzeichen mit seinem Wiedererkennungswert diene da als Anlaufstation: Anstatt durch Straßen zu irren, die sie nicht kennen, warten sie auf einen Bus - der eben nie kommt.

Das Konzept ist umstritten. "Warten ist keine Therapie", lässt etwa der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) verlauten: "Der Mensch mit Demenz wird in seiner Krankheit nicht ernstgenommen." Das könne man so sehen, sagt Schumann, die in den Phantomhaltestellen eher eine "Wertschätzung des Patienten" erkennen mag: "Validation" laute das Stichwort, eine therapeutische Technik, mit der auf die Bedürfnisse der Patienten eingegangen werde, statt sie zu unterdrücken. "Wir sagen nicht einfach: Nein, Sie können jetzt nicht nach Hause", erklärt Schumann. Stattdessen sei es Aufgabe der Pflegekraft, sich mit den Absichten eines Patienten inhaltlich auseinanderzusetzen, die ihn zur Haltestelle führen.

Nach einer Weile trete beim Patienten der Drang, wegfahren zu wollen, ohnehin wieder in den Hintergrund und werde durch andere Gedanken verdrängt, sagt Schumann. Im Grunde sei es ein Hilfsmittel "wie für den anderen Bewohner der Rollstuhl".

Insofern sei die Haltestelle nicht als Wartestation gedacht, an der man die Patienten wieder "einsammele". Die sitzen auch nicht alleine dort, sondern stets mit einer Pflegekraft, die etwa erklärt, dass der Bus heute offenbar ausfalle. Der Patient werde also belogen, moniert der MDS. Er bekomme wenigstens das Gefühl, etwas Konstruktives getan zu haben, kontern die Befürworter - und laufe nicht vor ein Auto.

Bei der Aufstellung der Haltestellen habe man sich nach den Erfahrungen etwa aus Köln, Hamburg oder Wuppertal gerichtet, sagt Schumann: Dort haben Pflegeheime ähnliche Haltestellen eingerichtet, in einem Fall sogar auf einem Flur. Die anderen Stiftbewohner seien über das Konzept informiert worden, auch mit den Angehörigen gibt es laut Schumann keine Probleme. "Die Alternative wäre: Wir rufen sie an und sagen, tut uns leid, Ihre Mutter ist verschwunden, wir suchen sie gerade."

Einmal wenigstens hat die gerade erst eingerichtete Haltestelle im Friedas-Frieden-Stift ihren Zweck bereits erfüllt: Eine Bewohnerin, die gerade ein Päuschen auf der Haltestellenbank hielt, habe sich einer abreisewilligen Demenzkranken angenommen: "Setz dich zu mir, ich warte auch auf den Bus."

Es habe Zeiten gegeben, in denen sie die Haltestellen dringender gebraucht hätten, sagt Schumann. Andererseits sei nun Frühling - eine Zeit, in der sich bei vielen Demenzkranken der Drang wegzugehen, verstärkt.

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