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Archiv-Artikel

„Der Klimawandel ist bittere Realität“

Der neue Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) fordert ein „neues Klimaschutzregime“ für die Zeit nach Kioto

taz: Herr Minister, Bundeskanzler Helmut Kohl versprach 1997 auf der Klimakonferenz in Bonn, dass Deutschland 25 Prozent weniger CO 2 im Jahr 2012 ausstößt als 1990. Dieses Ziel propagierten auch die Grünen, als sie noch regierten. Heute ist davon keine Rede mehr. Fehlt der SPD Problembewusstsein?

Sigmar Gabriel: Im Gegenteil! Maßstab unserer Klimaschutzpolitik sind die gleichen internationalen Zusagen, wie sie auch von SPD und Grünen gegeben wurden. Unser Kioto-Ziel lautet: 21 Prozent weniger Treibhausgase bis 2012 im Vergleich zu 1990. Davon haben wir bis 2003 bereits 18,5 Prozentpunkte erreicht. Wir werden die Klimaschutzpolitik konsequent weiterentwickeln. Unser Flagschiff heißt Emissionshandel. Damit setzen wir marktwirtschaftliche Impulse für 60 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland. Dazu kommen die erneuerbaren Energien, ein Milliardenprogramm für energetische Gebäudesanierung und der Ausbau der Biokraftstoffe. Nicht Abwertung des Klimaschutzes, sondern Nutzung der Herausforderung für Innovationen, Beschäftigung und Wachstum in Deutschland ist unsere Aufgabe.

Statt zu sinken, stieg der Treibhausgasausstoß in Deutschland zuletzt wieder – wenn auch nur leicht. Wer ist schuld?

Während die Trends in Industrie, Verkehr und privaten Haushalten seit 1990 generell nach unten zeigen, sind die CO2-Emissionen der Energiewirtschaft seit 1999 angestiegen. Und dies, obschon eine Vereinbarung mit der Deutschen Wirtschaft zur deutlichen Senkung ihrer klimarelevanten Emissionen existiert. Das macht mir Sorgen. Hier muss der Emissionshandel seine klimapolitisch erforderlichen Wirkungen erst noch entfalten. Die Energiewirtschaft ist dabei, die Anreize zur Modernisierung ihres Kraftwerksparks zu nutzen.

Die CDU will die Treibhausgasemissionen durch längere AKW-Laufzeiten weiter senken. Sie steht zum Atomkonsens. Mit welchen Konzepten will die SPD verhindern, dass abgeschaltete AKWs durch Kohle- oder Gaskraftwerke ersetzt werden und so die Emissionen weiter steigen?

Wir müssen mehrere Dinge gleichzeitig tun. Erstens müssen wir die enormen Potenziale zur Minderung des Stromverbrauchs nutzen. Denken Sie an die Reduzierung des Stand-by-Verbrauchs: Allein damit ließen sich ein bis zwei Atomkraftblöcke einsparen. Zweitens müssen wir die erneuerbaren Energien ausbauen. Dies heißt nicht nur Wind- und Wasserkraft, sondern mehr und mehr auch Biomasse. Hier boomt der Markt bereits. Nicht zuletzt müssen modernste Kraftwerke mit den höchsten Wirkungsgraden ans Netz. Diese ersetzen dann nicht nur die abgeschalteten Atomkraftwerke, sondern auch die bis zu fünfzig Jahre alten Kraftwerke im Westen Deutschlands.

Mit welcher Position fährt Deutschland auf die Klimakonferenz nach Montreal?

Wir wollen dazu beitragen, dass jetzt ein zeitlich abgegrenzter Verhandlungsprozess über ein neues multilaterales Klimaschutzregime für die Zeit nach 2012 beginnt, das auf der Architektur des Kioto-Protokolls aufbaut. Das bedeutet weitere bindende Minderungsverpflichtungen für Industrieländer. Auch die USA müssen ihrer Verantwortung gerecht werden. Wichtig ist aber auch die technologische Zusammenarbeit mit Ländern wie Brasilien, China und Indien, die ihr wirtschaftliches Wachstum vom Emissionswachstum entkoppeln müssen.

Welche Konzepte gibt es, um die USA zu mehr Klimaschutz zu animieren?

Aktiver Klimaschutz gewinnt auch in den USA an Boden. Das zeigt sich etwa in den Bundesstaaten im Nordosten, die ein eigenes Emissionshandelssystem für CO2 einführen wollen. Oder an der Initiative von 186 Städten mit insgesamt 40 Millionen Einwohnern, die sich vorgenommen haben, das Kioto-Ziel von minus 7 Prozent umzusetzen. Diese und andere Aktivitäten außerhalb der Administration bestärken mich in der Erwartung, dass die USA sich dem internationalen Klimaschutzprozess nicht auf Dauer entziehen werden.

Tony Blair hat gesagt: Wenn wir so mit Kioto weitermachen wie bisher, marschiert die Welt definitiv in die Klimakatastrophe. Hat er Recht?

Jüngste wissenschaftliche Untersuchungen lassen in der Tat erschrecken. Der Klimawandel ist bereits bittere Realität, und er schreitet schneller voran, als wir noch vor kurzem erwartet haben. Es muss uns gelingt, den globalen Temperaturanstieg gegenüber dem vorindustriellen Niveau auf zwei Grad zu begrenzen. Anderenfalls steigt die Wahrscheinlichkeit extremer und irreversibler Ereignisse erheblich. Eines dieser Ereignisse ist das Abschmelzen des Grönlandeises. Dies allein würde zu einem langfristigen Anstieg der Meeresspiegel um sieben Meter führen.

INTERVIEW: NICK REIMER