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die wahrheitDer Saft der Insel

Die Island-Woche der wahrheit: Im geheimnisvollen Gumthing.

Seine Haut glänzt wie frische Milch. Über alle runden Backen strahlend begrüßt uns Sami Sigurdssohn am internationalen Flughafen Keflavík. Eine Woche lang wird Sami uns durch Island chauffieren und Geschichten von der nordischen Insel erzählen. "Endlich habe ich wieder jemanden, der zuhört", meint Sami, und genau deshalb sind wir auch hierher gereist, um den Grund herauszufinden, warum so viele Geschichten und Geschichtenerzähler aus Island kommen. Schon beginnt Sami mit einer Anekdote über eine Eisscholle und einen Eisbären …

Das Erste, was dem Islandbesucher auffällt, ist nicht das besondere Licht, das an eine beschlagene Brille erinnert. Es ist auch nicht die krümelige Luft, in der teerige Brocken herumflirren wie in einer durchgehusteten Raucherlunge. Es ist nicht einmal die gläserne Kälte, die jedem Neuankömmling einen Tiefschlag in die Hundert versetzt. Nein, es ist dieses Geräusch, das über allem liegt: ein feuchtes Gurgeln und Brodeln, das wie "Glunsch-glunsch-glunsch" klingt und durch die Fußbedeckung der Isländer hervorgerufen wird. Egal ob Frau oder Mann, Kind oder Haustier - alle Insassen dieser absolut farbfreien Insel in der Mitte des Nichts tragen graue Gummistiefel oder "Gums", wie sie es nennen. Und damit kennen wir auch schon das wichtigste Wort des Isländischen. Die drei anderen lauten: "Johu", was "Ich", "Ja" und "Nein" bedeutet; "Taktak", mit dem man "Danke", "vielen Dank" und "Leck mich!" sagt; und schließlich "Umu", das je nach Betonung alles heißen kann.

Ob ich mir auch "Gums" besorgen soll, fragen wir Sami Sigurdsson, der grimmig abrät. Wir hätten wohl noch nie einen Gumthing betreten, warnt er. Plötzlich fallen uns die Schilder auf. Überall in den Städten, selbst in der Landschaft stehen diese Hinweisschilder mit einem wie von Kinderhand ungelenk gezeichneten Stiefel. So kann der Isländer an jedem Ort einen Gumthing finden, was immer das auch ist. Denn Sami will es uns nicht erklären. Aber er hätte da eine andere Geschichte, beginnt er … Fünf Tage geht das so: Wir fragen nach dem Gumthing, und Sami lenkt ab und fabuliert vor sich hin.

Am letzten Abend schließlich setzt er uns am Hotel ab, um etwas Dringendes zu erledigen. Als wir sehen, dass er um die Ecke parkt und eilig losstiefelt, folgen wir ihm. An einer steinernen Rundhütte mit rotem Holzdach stoppt Sami. Das muss der Gumthing sein. Sami zeigt der stämmigen blattgoldblonden Gumthingwächterin einen Ausweis und betritt das Häuschen. Vorsichtig pirschen wir durch den Nebel an den Gumthing heran, als die Wächterin ihren Posten verlässt. Es muss eine Großküche oder Brauerei sein, ständig fallen lallende Gummistiefelträger polternd aus der Tür heraus und schlagen hin auf das Steinpflaster.

Leise öffnen wir die Tür zum Gumthing. Die Augen brauchen eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Auf einer Empore ist ein riesiger kupferfarbener Trichter angebracht, dessen Öffnung über eine Birkenholztreppe zu erreichen ist. Oben steht Sami und hält etwas in der Hand, das aussieht wie … - das kann nicht sein! Ein Brodeln und Köcheln, ein Zischen und Zutscheln dringt aus der Mitte. Sami schüttelt nun seinen … ja, es ist tatsächlich sein auf den Kopf gestellter Gummistiefel, dessen Inhalt von dem Trichter aufgefangen wird. Wir pressen uns in eine dunkle Ecke. Mürrische Stimmen kommen näher. Bloß raus hier.

"Umugum" heißt das Gebräu, das den Isländer antreibt und einen furchtbaren Rausch verursacht. Mit sattgetrunkenem Kopf sitzt Sami vor uns. Er schämt sich schrecklich, ist er doch der erste Inselbewohner, der einem Fremden das größte Geheimnis der Insel offenbart. Wir wissen nun alles. Umugum trinken und Geschichten erzählen, das sei eins, beichtet er uns. Alles wird aus Umugum gemacht, auch die schlammige Dunkelbiersuppe, die wir morgens, mittags und abends gegessen haben, weil der Isländer sonst keine andere Nahrung kennt. Umugum-Suppe schmeckt nach ranzigem Tran und verbranntem Tabak. Umugum aber sei auch ein wunderbares Reinigungsmittel. Warum hätten wohl alle Isländer solch eine reine Haut, fragt Sami stolz, während aus den Tiefen unserer Mägen eine gigantische Welle bereits verdautes Umugum sich den Weg hinauf in die Freiheit sucht.

Am nächsten Morgen wartet bereits die Maschine für den Heimflug. Halbwegs nüchtern kann Sami Sigurdsson uns nicht in die Augen sehen und starrt auf seine Gums. Ob er uns gestern Abend eine, nun ja, eigenartige Geschichte erzählt habe, druckst Sami Sigurdsson herum. Es wäre ihm sehr lieb, wenn wir sie nicht weitererzählten, bittet er. "Johu taktak umu", sagen wir zum Abschied. Was immer das auch bedeuten mag.

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