Startheater in München: Fleischfressende Monster

Frank Castorf inszeniert "Kasimir und Karoline" am Münchner Residenztheater. Dem Burgtheater Wien macht er seine Stars abspenstig.

Maskenspiel mit Schwellköpfen: "Kasimir und Karoline" von Ödön von Horvath. Bild: dapd

MÜNCHEN taz | Die weltweit größte kollektive Drogeneinnahme, das Oktoberfest, ist an München wieder einmal ohne außerplanmäßige Schäden vorübergegangen. Am Residenztheater jedoch war das Starkbier mit dem Gift des Mutterkorns kontaminiert.

"Kasimir und Karoline", Ödön von Horváths fein zergliedernde Betrachtung über kleinbürgerliches Strandgut auf der Wiesn, ist dort keine "Ballade voll stiller Trauer", als die Horvárth sein Stück dem zeitgenössischen Theaterbetrieb angedient hat, und schon gar nicht "gemildert durch Humor", sondern ein Grenzen sprengendes Theaterfest über mehr als vier Stunden.

Die Musikalität der kargen Sprache, auf die die Studienräte bei Horváth so großen Wert legen, ist bei Frank Castorf zwar auch da, nur eben ganz anders. Es rebelliert mittlerweile, wie man hört, die gesellschaftliche Mitte, und das Wutbürgertum entdeckt angesichts des schwindenden Gegenwerts seiner Ersparnisse plötzlich den irrationalen Selbstzweck der gegenwärtigen Wirtschaftsweise. Krise, richtig, da war doch mal was.

Castorf weckt die deutschen Geister. Das Hakenkreuz und die Fratzen seiner Träger stehen als monumentale Scherenschnitte auf übermannshohen Stangen im Schlaglicht und verwandeln die Bühne zeitweilig in einen begehbaren Halloween-Kürbis (Bühne: Hartmut Mayer, Licht: Gerrit Jurda).

Auf den Bierbänken lagern meterdicke Kinderpuppenschwellköpfe und warten aufs zeitweilige Maskenspiel, das die Horváthschen Protagonisten in kurzarmige, fleischfressende Monster verwandelt, der niedliche Dickkopf der männlichen Titelfigur trägt schon, aber gerade erst sichtbar, die Rotzbremse des Führers unterm Stupsnäschen.

Deutsche Obsessionen

Am Anfang stehen die deutschen Obsessionen Blut, Bier und Scheiße. Die erste Stunde zeigt den Abort als Hort des falschen Bewusstseins. In der Zirkulation der Bierhumpen werden dann aber auch die Einzelheiten sichtbar. Was da schreit, gurrt und schwitzt, war mal die überlegene Männlichkeit des Industriezeitalters. Die Hände an Deck und die starken Arme, die Räder stillstehen lassen können, wenn sie wollen.

Sie werden nicht mehr gebraucht und drohen sich am eigenen Testosteron zu vergiften. Sie lungern herum auf den Arbeitsamtsfluren, die mittlerweile ganz anders heißen, und den Schaustellerbuden, in denen statt der lebendigen "Abnormitäten" des Stücks wahrscheinlich nur noch Spielautomaten zu finden sind.

Da muss Verdünnung her, und Kasimir, der freigesetzte Chauffeur, will sich erst besaufen und sich dann umbringen, was in seinem Fall ein und dasselbe ist. Der Körper, der sich bislang nur in der Symbiose mit der Maschine wahrnehmen konnte, die seinen Kräften in der Arbeit Form und Richtung gab, greift sich nunmehr selbst an. Der Abgebaute baut sich selbst ab.

Nicholas Ofczarek trägt diesen Übergang von der Ökonomie in den Stoffwechsel bis in jede Körperzelle aus. Sein Spiel der Überidentifikation sprengt das, was man gemeinhin unter Figur versteht, und führt das Zerbrochene in die Überhöhung. In einer unglaublich roten wollenen Strampelhose tanzt er sich in eine faszinierende Leichtigkeit, in der er den gesamten Abend an den Fäden führt.

Karoline stöckelt immer wieder um und durch dieses Zentrum, um von Mal zu Mal immer wieder abgestoßen zu werden. Anders als der Arbeiter ist sie nicht von ihren Produktionsmitteln getrennt, sondern vielmehr aufgrund kleinbürgerlicher Sozialisation nichts darüber hinaus. Reproduktion und sonst gar nichts.

Mit schwingenden Katzenbergerlocken - allerdings in Rotgold, versetzt Birgit Minichmayr hier eine Telenovela-Figur auf einen unvorhergesehenen Beschleunigungspfad. Girls wanna have fun. Doch die Verhältnisse sind nicht so: Du hast nur einen Versuch. Und den verfehlt sie. Ein Beamter hätts sein sollen - mit Pensionsanspruch und kein arbeitsloser Chauffeur. Wie gut, dass die Familie noch nichts von den Brüningschen Notverordnungen weiß.

Burgtheater München

Um sie herum noch mehr, noch unsicherer flackernde Sterne. Der Merkel-Franz (Sheja Lacher) mal rot, mal nazibraun, aber immer mit rosa Hintern von der Züchtigung der Lust und der Lust an der Züchtigung. Bibiana Beglau wechselt von der Erna zum zwielichtigen Zuschneider - sprich Zuhälter Schürzinger so griffsicher, als wärens Kasperlpuppen, Götz Argus sind Papa, Mama und vieles mehr.

Eine "Lippennegerin", ein Gorillamädchen und ein leibhaftiges Fjordpferd runden die Séance ab. Wenn die Szene aufklart, setzt es Texte von Ernst Jünger über den Typus des Arbeiters und der Vision einer gesamtgesellschaftlichen Mobilmachung. Die Überproduktion an Waren und Menschen wird hierin dem Schlachtfeld überantwortet.

Unberufene viereinhalb Stunden Theater in seiner ganzen Fülle. Das Geschenk bleibt am Ende der einzig mögliche subversive Akt in der Ökonomie wie in der Kunst. Es setzt in beiden Sphären das Gesetz des Tauschs außer Kraft. Abonnenten bekommen mehr, als sie erwarten, auch das irritiert. Jetzt hätten die Münchner ihr Burgtheater, grummelte einer. Da ist wohl was dran, kommen Ofczarek und Minichmayr doch von dort, auch Castorf inszenierte für die Burg.

In Wien schlägt der Betrieb eher die Hände über dem Kopf zusammen über das, was ein Regisseur wie Castorf an diesem Abend mit einem Wissen um das Allgemeingültige im Lokalen freizusetzen verstand. Man muss dem neuen Intendanten Martin Kusej in seiner Münchner Direktion schon deswegen den Erfolg wünschen, weil er auf das Kalkül der Kaufmannssöhne im Theater einfach pfeift.

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