: Indonesien verliert seinen blinden Seher
NACHRUF Abdurrahman Wahid war Indonesiens erster demokratisch gewählter Präsident nach der Diktatur
JAKARTA taz | Als Abdurrahman Wahid, genannt Gus Dur („Bruder Dur“), am 30. Dezember in Jakarta starb, strömten Zehntausende spontan im ganzen Land zusammen, um gemeinsam zu beten. Präsident Susilo Bambang Yudhoyono ordnete sieben Tage Staatstrauer an. Von Oktober 1999 bis Juli 2001 war der frühere Muslimführer Wahid Indonesiens vierter Präsident gewesen, der erste demokratisch gewählte seit Jahrzehnten. Doch seine Amtszeit war eher ein Tiefpunkt in seinem Leben. Er hatte sich in Korruptionsaffären verheddert, war mit fast allen Reformideen gescheitert. Die Kämpfe zwischen Muslimen und Christen auf den Molukken und in Zentralsulawesi, den Bürgerkrieg in Aceh oder den Konflikt in Westpapua konnte er nicht lösen.
Zwar feuerte er Verteidigungsminister Wiranto, der für die Greuel um das Unabhängigkeitsreferendum 1999 in Osttimor verantwortlich war, und deckte die Kooperation von Islamisten und Generälen auf. Doch gelang ihm nicht, den Einfluss der Militärs zurückzudrängen. Im Juli 2001 enthob ihn eine Allianz von Muslimen und Militärs im Parlament seines Amtes. „Indonesien war nicht bereit für Gus Durs Offensive für die Demokratie“, schrieb der australische Historiker Adrian Vickers.
Doch Wahids Bedeutung für das Land ging weit über die Präsidentschaft hinaus. Der nach drei Schlaganfällen blinde und an Diabetes Leidende, dessen Mut, unorthodoxes Verhalten und schwarzer Humor berühmt waren, war Indonesiens Seher, Guru und „Kleriker des Pluralismus“, wie die Jakarta Post titelte. Er kämpfte für den interreligiösen Dialog und einen friedlichen Islam. Er trat offen für Christen und Chinesen und sogar für ein normales Verhältnis zu Juden ein. „Er war ein Segen für alle Glaubensrichtungen“, sagte Jakartas Erzbischof.
Er entschuldigte sich bei den Opfern der Suharto-Diktatur wie bei den Osttimoresen für ihr Leiden unter Indonesiens Herrschaft. Er hob das Verbot des Kommunismus auf, bat die Opfer der Kommunistenverfolgungen 1965/66 um Vergebung und versuchte, einen Prozess der Versöhnung einzuleiten, was Militärs, viele Muslime, seine Partei und sogar eigene Familienangehörige, die einst die Mordorgie angeführt hatten, aufbrachte.
Schon zu Zeiten seines Studiums an Kairos Al-Azhar-Universität zeigte Wahid sein unorthodoxes Verhalten. Statt sein Studium der heiligen Schriften fortzusetzen, verschlang er New-Wave-Filme, französische, englische oder marxistische Literatur und wandte sich enttäuscht von Kairo ab, dessen Lehren er für irrelevant hielt. Er ging nach Bagdad, wo er sich mit religiös-sozialen Schriften einen Namen machte.
Wahid war 1940 in Ostjava in eine hoch angesehene religiöse Familie geboren worden. Sein Vater war unter Staatsgründer Sukarno Religionsminister, sein Großvater Gründer der Nahdlatul Ulama (NU), der mit über 30 Millionen Mitgliedern weltgrößten muslimischen Organisation. Die führte Wahid selbst von 1984 bis 1999. Schon früh forderte er von den Ulamas, für eine „soziale und kulturelle Transformation der Gesellschaft“ zu arbeiten. Er war der Einzige aus der Elite, der Umsturzpläne gegen den Diktator Suharto entwickelte und von einer notwendigen Revolution sprach. ARMIN WERTZ