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Archiv-Artikel

Der Protest der alten Dame

Ljudmila Alexejewa gibt nicht schnell auf. Nachdem sie nach ihrer letzten Festnahme in Moskau in der Silvesternacht wieder freigelassen werden sollte, weigerte sich die 82-Jährige, das Polizeipräsidium zu verlassen, wenn nicht auch alle anderen Demonstranten freikämen. Sie befinde sich im Büro des Moskauer Polizeichefs, und dieser habe die Freilassung aller Festgenommenen zugesichert, erklärte sie einem ap-Reporter über ihr Handy. Die Reaktion des Polizeichefs ist nicht überliefert.

Als Schneekönigin hatte sich Alexejewa verkleidet, um am 31. Dezember das zu tun, was Russlands Bürgerrechtler inzwischen zu einer ständigen Einrichtung an jedem 31. eines Monats machen wollen: In Moskau für Demonstrationsfreiheit demonstrieren, so wie es Artikel 31 der russischen Verfassung garantiert. Bereits am 31. Juli, August und Oktober hat diese Aktion stattgefunden. Am 31. Dezember wurde die Demonstration unter Hinweis auf Silvesterfeiern verboten.

Eine Stunde lang standen die Demonstranten trotzdem auf dem Triumphalnaja-Platz im Zentrum von Moskau, bevor Antiaufstandspolizisten zugriffen, als die Protestierenden Parolen riefen und Plakate hochhoben, auf denen unter anderem stand: „Putin hinter Gitter“. Alexejewa wurde zusammen mit mehreren Dutzend anderen Oppositionellen festgenommen. Teils unter Gewaltanwendung wurden die Aktivisten in fünf Polizeibusse gestoßen und weggefahren.

Alexejewa ist Russlands wohl bekannteste noch lebende Menschenrechtlerin, nachdem etliche andere ermordet wurden. Sie war schon zu Sowjetzeiten eine Dissidentin und bleibt es bis heute. Dieses Jahr erhielt sie gemeinsam mit zwei Mitstreitern der Organisation Memorial, die die Aufarbeitung des Stalinismus und auch jüngerer Verbrechen in Russland betreibt und immer wieder verfolgt wird, den Sacharow-Preis des Europaparlaments; mit Andrei Sacharow zusammen hatte Alexejewa in den 1970er-Jahren die russische Helsinki-Gruppe gegründet, bevor sie 1977 ins US-Exil ging, aus dem sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zurückkehrte.

Über ihre Festnahme zeigte sich der polnische Parlamentspräsident Jerzy Buzek jetzt „sehr schockiert und enttäuscht“. (taz)