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Archiv-Artikel

„Ganze Wissenschaftsbereiche trocknen intellektuell aus“

UNIVERSITÄTEN Michael Hagner im Gespräch über die wissenschaftspolitische Lage

Michael Hagner

■ Herausgeber des Bändchens „Wissenschaft und Demokratie“, ist Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich. Er wurde mit dem Akademiepreis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. 2008 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.

INTERVIEW PETER SCHNEIDER

sonntaz: Herr Hagner, seit einigen Jahren überbieten sich die Universitäten in „Excellence“. Universitäten sollen und wollen wie Unternehmen funktionieren. Was bedeutet das für das Verhältnis von Wissenschaft und Demokratie?

Michael Hagner: Wenn Forschung und Lehre zunehmend unter das Diktat von Jahresbilanzen, Produktmanagement und Showbusiness gestellt werden, passiert der Wissenschaft ungefähr das, was Colin Crouch für die Demokratie diagnostiziert hat: Politiker kompensieren ihren allgemeinen Autoritätsverlust durch Methoden des Marketing und der Unterhaltungsindustrie, wodurch Bürgerinnen und Bürger in die Rolle passiver Konsumenten gedrängt werden. Die Folge ist Politikverdrossenheit, und das ist stets eine Gefahr für die Demokratie.

Politische Entscheidungen, so wird oft betont, sollten „Sach“-Entscheidungen sein. Die Abschottung der Wissenschaften gegenüber politischer oder weltanschaulicher Willkür scheint eine Bedingung der Demokratie zu sein. Geht aber eine so verstandene Verwissenschaftlichung der Politik nicht zugleich mit einer undemokratischen Expertenherrschaft einher?

Das kommt darauf an. Erstes Beispiel: Bei den politischen Weichenstellungen, die mit zur verheerenden Finanzkrise beigetragen haben, sind die Politiker zweifellos von ökonomischen Experten beraten worden. Eine Katastrophe. Zweites Beispiel: Bezüglich der ungemütlichen Folgen des Klimawandels kann sich die internationale Community der Klimaforscher den Mund fusselig reden, viele Politiker und Teile der Öffentlichkeit sind nicht sonderlich beeindruckt. Auch eine Katastrophe. Sie sehen: Ob Experten daran mitarbeiten, die Welt zugrunde zu richten oder sie vor dem Schlimmsten zu bewahren, kann man nicht so allgemein sagen.

Wie sollen demokratisch gesinnte BürgerInnen damit umgehen?

Ich fürchte, es geht nur so, dass sie sich in den einen oder anderen dieser Bereiche beharrlich einarbeiten und zu einer Urteilskraft gelangen, die die Vertrauenswürdigkeit von Wissenschaft und die Machbarkeit innerhalb einer demokratisch legitimierten Politik gegeneinander abwägt.

Kann man sich das Funktionieren der Wissenschaften auch anders denken als in der Rolle, der Politik unhintergehbare Vorgaben zu liefern? Wie demokratisch sind die Wissenschaften selbst, wie sehr könnten oder müssten sie es sein?

Im 19. und 20. Jahrhundert haben die Wissenschaften, von der Politik dazu ermutigt und üppig ausgestattet, zahllose Erkenntnisse um der Erkenntnis willen produziert und waren stolz darauf, weil sie meinten, dass das ebenso ein Ausweis von Zivilisiertheit ist wie Kunstmuseen und Opern auch. Dieses Modell hat es zurzeit schwer, ich bin aber sicher, dass es – in einer Form, die ich jetzt noch nicht antizipieren kann – zu einem Revival dieses Modells kommen wird, nämlich dann, wenn ganze Wissenschaftsbereiche vor lauter Wissensablieferungszwang an die Politik intellektuell austrocknen.

Der Untergang dieses Modells hat eine schwere Legitimitätskrise der Geisteswissenschaften erzeugt. Sehen Sie auch hier die Chance eines Revivals?

Sicher. Erstens haben die Geisteswissenschaften in den letzten 20 Jahren alles andere als schlechte Arbeit geleistet. Sie haben sich vielleicht zu wenig mit Fragen unserer Zukunft auseinandergesetzt, aber das ändert sich gerade. Zweitens ist die Vorstellung, dass sich alles und jedes durch Messung sowie durch Sammlung, Klassifikation und Aufbereitung von Daten verstehen ließe, mitnichten als einzigartiger Fortschritt anzusehen, sondern als kulturelle Wertsetzung, die eine große Konjunktur hat, aber auch wieder relativiert werden wird. Die Geisteswissenschaften haben da einiges anzubieten, selbst wenn die schönen Möglichkeiten der digitalen Technologien gegenwärtig zum öden Hype der Digital Humanities aufgebläht werden.

Michael Hagner (Hg.): „Wissenschaft und Demokratie“. Suhrkamp Verlag, Edition Unseld, Berlin 2012, 284 Seiten, 16 Euro