: Entführt!
Die Geiselnahme von Susanne Osthoff beweist, dass im Irak niemand mehr sicher ist
VON JENS KÖNIG, BERLIN, UND INGA ROGG, ERBIL
Auch die außergewöhnlichen Bewährungsproben gehören zur Routine eines Regierungschefs, das ist bei Angela Merkel nicht anders als bei Gerhard Schröder. Genau eine Woche ist Angela Merkel jetzt im Amt, und schon hat die neue Bundeskanzlerin ihre erste heikle außenpolitische Mission zu erfüllen: das Leben von Susanne Osthoff zu retten, einer im Irak entführten 43-jährigen Archäologin aus Bayern.
Am Dienstagvormittag absolviert Angela Merkel ihre erste Presseunterrichtung in den Räumen des Kanzleramtes mit staatsmännischem Gesicht. Sie hat schlechte Nachrichten zu verkünden. Im Irak ist erstmals seit dem Sturz Saddam Husseins eine Deutsche entführt worden, auch deren Fahrer wird vermisst. Merkel bleibt in ihrer Wortwahl diplomatisch: „Wir müssen nach derzeitigem Stand von einer Entführung ausgehen“, sagt sie. Die Bundesregierung verurteile die Tat auf das Schärfste. Sie richte einen eindringlichen Appell an die Täter, beide unverzüglich in sichere Obhut zu übergeben. Merkel informiert darüber, dass sie unmittelbar nach der heutigen Kabinettssitzung mit dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes gesprochen habe. Alle Bemühungen der Bundesregierung seien darauf gerichtet, das Leben der Betroffene zu schützen. Und dann noch ein paar Worte an die Angehörigen und Freunde der Betroffenen. „Ihnen gehört unser Mitgefühl“, so die Kanzlerin. „Sie können gewiss sein, dass die Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um beide so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen und ihr Leben zu sichern.“ Keine Erläuterung zu den Umständen der Tat, keine Details, keine Beantwortung von Fragen. Merkels Erklärung dauert nur knapp 90 Sekunden. Wortlos trägt die Kanzlerin ihre blaue Mappe davon.
Die zurückhaltende Informationspolitik der Bundesregierung ist bei Entführungen üblich. Nichts soll die Lösung der heiklen Fälle gefährden. Das Auswärtige Amt gibt nur wenig mehr preis. Erste Hinweise auf eine mögliche Entführung der deutschen Staatsbürgerin habe das Außenministerium am Sonnabend erhalten, erklärt ein Sprecher. Am Freitag sei die Frau zu einer Überlandfahrt durch den Irak aufgebrochen und nicht zurückgekehrt. Daraufhin wurde bereits einen Tag später ein Krisenstab des Auswärtigen Amtes gebildet, geleitet wird er vom krisenerfahrenen Staatssekretär Klaus Scharioth.
Hat das Außenministerium Kontakt zu den Entführern? Welche Forderungen stellen sie? Sind es Al-Qaida-Terroristen? Wird die Bundesregierung Lösegeld zahlen? Zu all diesen Fragen keine Auskunft. Nur so viel: Der Krisenstab stehe mit allen Behörden im Irak in Kontakt, um das Leben der Geiseln zu retten. Und noch einmal der Hinweis, dass alle Deutschen im Irak – das Auswärtige Amt gibt deren Zahl mit „etwa einhundert“ an – um die Gefahr ihres Aufenthaltes wissen. Seit 2003 gebe es eine Reisewarnung für den Irak, im April 2004 seien alle Deutschen aufgefordert worden, das Land zu verlassen.
Mehr Aufschluss über die möglichen Hintergründe der Tat liefert die ARD. Ihrem Büro in Bagdad sei ein Videoband der Entführer zugespielt worden. Der Fernsehsender strahlte das Band nicht aus, veröffentlichte jedoch ein Standbild. Darauf ist eine kniende Frau zu sehen, bei der es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die entführte Susanne Osthoff handelt. Neben ihr sitzt demnach ihr Fahrer, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Beide haben die Augen verbunden. Um sie herum stehen drei vermummte Männer mit Waffen. Nach Angaben der ARD handelt es sich bei den Geiselnehmern um eine organisierte Gruppe. Sie fordert die Bundesregierung ultimativ auf, ihre Zusammenarbeit mit der irakischen Regierung einzustellen. Andernfalls würden die Frau und ihr Fahrer getötet. In Absprache mit dem Auswärtigen Amt hält die ARD weitergehende Informationen zurück, um das Leben der Geiseln nicht zu gefährden. Die Gruppe soll bislang nicht mit Terroraktionen aufgefallen sein, deshalb muss es wohl vorerst Spekulation bleiben, ob sie zum Netzwerk des irakischen Al-Qaida-Chefs Sarkawi gehört.
Auch wenn Deutsche wegen des Neins der Schröder-Regierung zum Irakkrieg von Entführungen und Anschlägen weitgehend verschont geblieben sind – für die deutschen Sicherheitsbehörden kommt die Geiselnahme nicht überraschend. Wegen seiner Beteiligung am Afghanistankrieg und der Ausbildung irakischer Polizisten gilt auch Deutschland seit längerem als potenzielles Anschlagsziel. Besonders im Irak gilt nicht erst seit heute: Niemand ist sicher, auch Deutsche nicht.
Bisher waren Deutsche, soweit bekannt, zweimal ins Visier von irakischen Kriminellen und Terroristen geraten. Im vorigen Jahr wurden zwei BGS-Beamte in der Nähe von Falludscha erschossen. Wenig später wurde ein Techniker im mittelirakischen Hilla getötet. Wie viele Ausländer insgesamt seit Mai 2003 im Irak entführt beziehungsweise getötet wurden, ist unbekannt. Laut Brookings Institution waren es bis zum 20. November 238. Meist traf es Mitarbeiter von ausländischen Firmen. Aber auch westliche NGO-Mitarbeiter oder Journalisten und arabische Diplomaten waren Ziel von Anschlägen. Zwischen April und September 2004 hatte sich das Kidnapping von Ausländern zu einem einträglichen politischen wie finanziellen Geschäft entwickelt. Weite Landesteile wurden für Ausländer so unsicher, dass so gut wie alle Hilfsorganisationen ihr Personal abzogen und ihren Sitz ins benachbarte Amman verlegten. Geschäftsleute suchten ihr Glück im sicheren Kurdistan. Außerhalb von Kurdistan vermochte niemand mehr zwischen kriminellen Machenschaften und politischen Forderungen zu unterscheiden. Nicht selten wurden Entführungsopfer von kriminellen Banden gekidnappt – und dann an Terrorgruppen regelrecht weiterverkauft.
Für die Iraker ist das freilich anders. Bei ihnen erheben die Entführer selten politische Forderungen, sondern wollen Geld, und das nicht zu knapp: zwischen 10.000 und mehreren 100.000 Dollar. Dabei kommt es nicht selten vor, dass Nachbarschaftsfehden auf diesem Weg ausgetragen werden. Oft wenden sich die Opfer nicht an die Polizei, weil diese ebenfalls an der Gelderpressung beteiligt sein soll.
Wegen der Unsicherheit auf der Strecke zwischen Erbil und Bagdad befahren Kurden sie nur noch im äußersten Notfall. Wer es sich leisten kann, nimmt das Flugzeug. Wer nicht muss, verlässt Kurdistan inzwischen freilich gar nicht mehr – so wie früher unter Saddam.
Susanne Osthoff hatte sich anders entschieden.