: Vom Kampf gegen den Gleichschritt
TU FELIX AUSTRIA Eine Ausstellung im Wien Museum beleuchtet Kulturkämpfe um Kunst und Architektur im „Roten Wien“ von 1919 bis 1934
VON RALF LEONHARD
Am 10. April 1919 wurden in Wien die verpflichtende Teilnahme am Religionsunterricht und das Schulgebet abgeschafft. Die Kreuze in den Klassenzimmern mussten abgehängt werden. Der Unterstaatssekretär für Unterricht Otto Glöckel dekretierte damals per Erlass, was heute in manchen Staaten Europas noch nicht selbstverständlich ist. Auch 1919 gab es dagegen erbitterten Widerstand der katholischen Kirche und ihrer parlamentarischen Stellvertreterin, der Christlichsozialen Partei. Dieser „Kampf um die Stadt“, so der Titel einer Großausstellung im Wien Museum, dauerte 14 Jahre und endete mit der Niederlage der Sozialdemokratie im kurzen Bürgerkrieg 1934 und der Errichtung des autoritären Ständestaates.
Nach dem Ersten Weltkrieg blieb vom Vielvölkerstaat Österreich nur der deutschsprachige Westen übrig, eine katholisch geprägte Alpenregion, in der die multikulturelle Millionenstadt Wien wie ein seltsamer Fremdkörper wirkte. Die Metropole war gleichzeitig Sitz konservativer Regierungen und Experimentierfeld roter Bürgermeister, der Einfluss der Kirche wurde zurückgedrängt.
Revolutionäre Sozen
Verglichen mit der Gegenwart, ist kaum vorstellbar, dass die Sozialdemokratie vor 90 Jahren eine revolutionäre Bewegung war. Arbeitersportvereine, -Bibliotheken und öffentliche Bäder verschafften dem Proletariat plötzlich Würde und Selbstbewusstsein. Die Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit waren nicht nur weltweit beachtete Hochburgen des sozialen Wohnungsbaus, sondern auch ästhetisch ansprechende Komplexe, die dem barocken Wien einen neuen Charakter gaben. Die Siedlungen waren ausgestattet mit eigenen Kliniken, Mütterberatungsstellen, Bädern, Kino- und Theatersälen. Gebetsräume hatten sie hingegen keine, was Kirche und Christdemokraten nicht müde wurden zu beklagen.
Mit der Machtergreifung der Austrofaschisten sollte sich das ändern. Der Glöckel-Erlass wurde bereits 1933 aufgehoben. 1934 formierte sich ein „Engelsbündnis“ mittelloser Kinder und Jugendlicher zu einem kleinen Kreuzzugsheer „zur Eroberung des Gemeindebaues für Christus“. In den Theatersälen wurden Gebetsräume eingerichtet, bis der Kirchenbau auch die Arbeiterbezirke ausreichend durchdrang. War Kirchenaustritt vorher mittels formloser Erklärung möglich, wurde er dann nur mehr nach „Überprüfung des Geisteszustands“ durch die Behörde erlaubt. Die Plakate der 1920er-Jahre mit ihren holzschnittartigen Sujets und den klassenkämpferischen Botschaften lassen die Spaltung der Gesellschaft erahnen.
Zugehörigkeit zur politischen Glaubensrichtung wurde ja auch durch Kleidung und – bei den Frauen – durch den Haarschnitt dokumentiert. „Bubikopf statt Gretelzopf“ hieß die Parole der Frauen, die sich von den traditionellen patriarchalischen Strickmustern lösen wollten. Der Kurzhaarschnitt signalisierte Emanzipation, sexuelle Selbstbestimmung, Abkehr von der Rolle, die die Konservativen den Frauen zuweisen wollten. Auch in den Porträts, für die die Damen der Gesellschaft Modell saßen, wird diese selbstbewusste Haltung demonstriert.
Die österreichische Bischofskonferenz wetterte 1921 in einem Hirtenbrief gegen die ausgelassene Sinnenlust als Grundübel der Nachkriegszeit. „Unsittliche“ Kino- und Theaterstücke vergifteten die Unschuld der Kinderherzen, töteten die letzten Reste des christlichen Schamgefühls. Die „Würde der deutschen Frau“ sahen sie durch „schamlose Auslandstänze“ entehrt, den Körper der Frauen durch neue Kleidermode enthüllt. Als Schuldiger wurde damals schon „der Jude“ ausgemacht. Arthur Schnitzlers Drama „Der Reigen“, das bei seiner Uraufführung einen Skandal auslöste, wurde als Symbol der „Judenbrunst“ verteufelt.
Katholische Empörung
Höhepunkt der katholischen Empörung war wenige Jahre später der Auftritt der afroamerikanischen Tänzerin Josephine Baker, die, nur mit einem Bananenröckchen bekleidet, das Publikum zur Raserei brachte. Ihre Zurschaustellung ungezügelter Erotik rief nicht nur Sittenwächter auf den Plan. Moralinsaure Polemiken wurden von der Deutschösterreichischen Tages-Zeitung noch übertroffen, die die „Vernegerung Wiens“ und die „Überfremdung unseres Volkstums“ hereinbrechen sah.
Hämische Drohungen in der Presse waren nur die eine Seite, es marschierten bereits die Milizen der Parteien: die konservative Heimwehr auf der einen und der Republikanische Schutzbund auf der anderen Seite. Nach dem skandalösen Freispruch für die Mörder republikanischer Demonstranten steckte 1927 ein aufgebrachter Mob den Justizpalast in Brand. Im Februar 1934 wurde die Machtfrage per Bürgerkrieg entschieden. Das bereits zur Marke gewordene Rote Wien musste sich dem Gleichschritt, der von Berlin bis Rom über die Pflaster dröhnte, anpassen.
■ „Kampf um die Stadt – Politik, Kunst und Alltag um 1930“; Wien Museum, bis 28. März; www.wienmuseum.at