: Der Nachbar als Schreckgespenst
AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER
„Lasst uns den Krieg mit den Deutschen beenden“, appelliert Polens liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza an die neue Regierung in Warschau. „In unserem Interesse liegt die Vertiefung der Zusammenarbeit mit den Deutschen, nicht deren Lockerung. Deutschland ist Polens engster Verbündeter in der Europäischen Union.“ Tatsächlich fährt Kanzlerin Angela Merkel heute in ein Land, dessen Politiker stolz darauf sind, vom heutigen Deutschland fast nichts zu wissen. Dafür können sie Zitate von Nazi-Größen wie dem Generalgouverneur Hans Frank im besetzten Polen fehlerfrei hersagen und Verlustzahlen aus dem Zweiten Weltkrieg auswendig herunterrattern. Für Polens politische Elite sind Deutsche nur noch eins: potenzielle Nazis. Vergessen ist nicht nur die „deutsch-polnische Interessengemeinschaft“ von 1989, sondern auch dass Deutschland dem Nachbarland sowohl beim Beitritt zur Nato als auch zur EU geholfen hat. Für die Konservativen Polens ist Deutschland kein Verbündeter mehr, sondern ein großer Gegner in der EU, den es zu bekämpfen gilt.
Angela Merkel wird in Polen Klartext reden, wenn sie das deutsch-polnische Verhältnis tatsächlich verbessern will. Nur lächeln und so tun, als gäbe es in der neuen polnischen Regierung kein Feindbild Deutschland, hat keinen Sinn. Das deutsch-polnische Problem ist über die frühere Asymmetrie – Geringschätzung Polens durch die Deutschen und polnisches Misstrauen gegenüber den Deutschen – zu einem gefährlichen Konfliktherd in der EU angewachsen. Kaum jemand in Europa versteht noch, was die konservativen Politiker und Publizisten Polens eigentlich wollen. Nur eines ist sicher: Polens politische Elite hat Angst vor den Deutschen.
Politik mit der Pipeline
In Polens Publizistik ist es nicht mehr ungewöhnlich, deutsche Politiker offen mit Nazis zu vergleichen. Zuletzt musste der Vertragsabschluss über die Ostsee-Pipeline zwischen Ruhrgas und Gazprom dafür herhalten. Auf dem Titelbild eines polnischen Nachrichtenmagazins gaben sich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der russische Präsident Wladimir Putin die Hand, wie es einst Hitler und Stalin getan hatten. „Der Pakt“ stand beziehungsreich darüber. In der Gazeta Wyborcza warnte Marek Edelman, einer der Anführer des Warschauer Ghettoaufstandes 1943, dass auch diesem deutsch-russischen Pakt womöglich ein Geheimvertrag angehängt sei, von dem die Polen erst fünfzig Jahre später erfahren würden. Auch das Deutschland eigentlich wohl gesinnte katholisch-liberale Wochenblatt Tygodnik Powszechny malte ein deutsch-polnisches Schreckgespenst an die Wand und warnte vor einem neuen „Rapallo“. In Deutschland weiß kaum noch jemand, worum es in diesem Vertrag überhaupt ging. In Polen aber wird Rapallo immer wieder zitiert – als Vorstufe des Hitler-Stalin-Pakts, in dem sich Deutsche und Russen über die Teilung Polens einigten. 1922 ging es allerdings nur um gegenseitigen Reparationenverzicht Sowjetrusslands und Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg – und um geheime Truppenübungen der Deutschen in Russland.
Die Pipeline wird weder durch die Ukraine noch Weißrussland führen, da diese Länder in der Vergangenheit illegal Gas abgezweigt hatten, das eigentlich für den Westen bestimmt war. Dadurch bedingt führt die neue Pipeline aber auch nicht durch Polen. Wirtschaftlich braucht Polen diese Pipeline nicht. Erst vor wenigen Jahren hat die polnische Regierung die Gasliefermenge aus Russland neu verhandelt und reduziert. Sollte das Land in Zukunft doch mehr Gas brauchen, kann die bestehende Jamal-Pipeline durch Polen genutzt werden. Das Argument gegen die deutsch-russische Gaspipeline, die auch andere EU-Länder mit Gas versorgen soll, ist daher auch kein wirtschaftliches, sondern ein geopolitisches. Ob die Angst vor einem neuen „Hitler-Stalin-Pakt“ echt oder gespielt ist, ist nur schwer zu sagen. Lech Kaczyński jedenfalls meinte noch vor der Präsidentenwahl, dass er Deutschland und Russland für die gefährlichsten Länder halte, mit denen Polen zurzeit zu tun habe.
Angst vor den Deutschen
Dass Lech Kaczyński seinen ersten Staatsbesuch als Präsident Polens den USA abstatten wird, hat nicht nur mit der polnisch-amerikanischen Waffenbrüderschaft im Irakkrieg zu tun, sondern auch mit Kaczyńskis Abneigung gegen die Deutschen. Er gibt dies auch offen zu. Noch vor den Wahlen antwortete er auf die Frage einer Journalistin, mit welchen Politikern in Deutschland er denn engeren Kontakt habe: „Mit keinem. Und ich bin stolz darauf.“
Für Polens politische Elite sind Deutschland und Frankreich die Verräter innerhalb der Nato. Sie hätten die USA im Stich gelassen, als Washington den „Krieg gegen den Terror“ aufnahm. Polens Konservative schlossen aus diesem angeblichen Verrat, dass Polen letztendlich doch nicht sicher ist in der Nato. Denn im Fall des Falles können die Deutschen souverän entscheiden, ob sie die Politik der USA aktiv mittragen und unterstützen. Da die Nato den Polen aber vor allem Sicherheit vor den Deutschen und den Russen bieten sollte, ist für sie nun die USA noch wichtiger als Schutzmacht als je zuvor. Kaczyński will sich also in den USA versichern lassen, dass die USA im Falle eines deutsch-polnischen Konflikts auf der Seite Polens stehen werden. So wie einst im Zweiten Weltkrieg.
Als im Sommer Angela Merkel schon einmal in Warschau war und sich mit beiden Präsidentschaftskandidaten treffen wollte, fand Lech Kaczyński keine Zeit für sie. Warum, wurde offiziell nicht bekannt. Doch Marek Cichocki, Wissenschaftler am Europakolleg Natolin in Warschau und einer der außenpolitischen Experten der PiS, bot unlängst in der Rzeczpospolita eine Erklärung für diese ostentative Dialogverweigerung. Deutschland – so Cichocki – sei von den Polen jahrelang politisch überschätzt worden. Der Nachbar im Westen – immerhin größtes und noch immer reichstes Land in der EU – sei gar nicht so wichtig. In der Außenpolitik Polens müsse also der Stellenwert Deutschland nach unten korrigiert werden.
Die Reparationsrhetorik
Dass die Angst vor den Deutschen in Polen wieder so groß ist, hat viel mit dem Bund der Vertriebenen und seiner Vorsitzenden Erika Steinbach zu tun. Nicht nur das in Berlin geplante „Zentrum gegen Vertreibungen“ mit den Polen als Haupttätergruppe, sondern auch eine an Schärfe kaum zu überbietende Sprache verschreckt viele Polen. Hinzu kamen Klagedrohungen der „Preußischen Treuhand“, einer weiteren Vertriebenenorganisation. Obwohl einige Publizisten und Politiker in Polen mahnten, nicht in eine Angstpsychose zu verfallen, da es sich nur um eine relativ kleine Gruppe handle, verabschiedete das polnische Parlament eine antideutsche Resolution, die schon einen gewissen Realitätsverlust erkennen ließ. Doch nun hat vor kurzem Polens künftiger Präsident Lech Kaczyński ein 700-Seiten-Werk mit „Verlusten Warschaus 1939 bis 1945“ vorgelegt. Er will Reparationsforderungen in zweistelliger Milliardenhöhe stellen, wenn ein Deutscher gegen Polen vor Gericht zieht und auf Rückgabe seines Eigentums klagt. Dabei weiß der Juraprofessor sehr wohl, dass kein demokratischer Staat seinen Bürgern Privatklagen verbieten kann.
Merkel steht nun einerseits im Wort bei den Vertriebenen – laut Koalitionsvertrag will sie ein „sichtbares Zeichen“ in Berlin für das Gedenken an die Leiden der Vertriebenen setzten –, andererseits kann und muss sie aber auch die von den Deutschen selbst hervorgerufenen Ängste in Polen dämpfen. Das kann sie durch die Unterstützung des Netzwerkes „Erinnerung und Solidarität“, in dem Institutionen verschiedener Länder das Thema „Vertreibung“ gemeinsam aufarbeiten wollen. Unterstützung würde sie sicher von beiden deutschen Kirchen bekommen, die das einseitige BdV-Projekt in Berlin ablehnen, aber – im Einvernehmen mit der katholischen Kirche Polens – für einen offenen Dialog über dieses schwierige Kapitel in der deutsch-polnischen Geschichte eintreten.
Die stille Beauftragte
Während Adam Krzemiński in der Gazeta Wyborcza den eigenen Landleuten eine Standpauke hält und für die „Beendigung des Krieges gegen Deutschland“ plädiert, hört man von Irena Lipowicz kein Wort. Die Beauftragte für deutsch-polnische Beziehungen schweigt zu all den absurden Vorwürfen. Auch in den antideutschen Wahlkampf Lech Kaczyńskis, der seinem Gegenkandidaten Donald Tusk in denunziatorischem Stil „Deutschfreundlichkeit“ vorwerfen ließ, griff Lipowicz nicht ein. Während in Deutschland Gesine Schwan, die die gleiche Aufgabe hat wie Lipowicz, nämlich Spannungen zwischen beiden Länden zu mildern, immer wieder an die Öffentlichkeit tritt und den Deutschen polnische Empfindlichkeiten und auch Überempfindlichkeiten erklärt, gießt Lipowicz in Polen eher noch Öl ins Feuer. Kein Wunder, findet sie doch, dass die Polen in ihren Aversionen gegen Deutschland völlig Recht haben. Einen „Krieg“ kann sie nicht erkennen. Nur Chancen für einen Neuanfang.