Nichts für die Ewigkeit

Die zwölf Fußball-WM-Stadien zeugen von der Klassenbildung im Publikum. Sie sind medien- und familiengerecht, ausgestattet mit komfortablen Schalensitzen, zumeist überdacht und konzipiert für multifunktionale Nutzungen

Eigentlich ist es ein Unding, sich mit der Architektur der Fußballweltmeisterschaftsstadien zu befassen. Denn der wirkliche Skandal ist, dass das komplizierte WM-Ticketsystem es ohnehin unmöglich macht, spontan und mit Freunden einem der Spiele vor Ort im Stadion beizuwohnen. Da kann man schon mal über einen Boykott der ganzen Veranstaltung nachdenken. Oder man zieht sich beleidigt auf die, beim Fußball bereits seit langem eingeübte, Couchpotato-Position zurück und blättert in einem neuen Buch: „Stadien der Fußballweltmeisterschaft 2006“ vom Birkhäuser Verlag.

Im einleitenden Text fragt die Architekturkritikerin Angelika Schnell danach, warum das Stadium als „ursprüngliche Massenarena“ nicht völlig durch das Massenmedium Fernsehen ersetzt wurde; ihre Antwort: Man sei gegenseitig aufeinander angewiesen, „ein modernes Stadium könnte ohne die Medien wohl kaum existieren“. Jedem der zwölf neuen deutschen WM-Stadien sind anschließend mehrere Seiten gewidmet, die Kapitel farblich hübsch voneinander getrennt; zum Teil werden sie ergänzt durch Interviews mit den verantwortlichen Architekten und Ingenieuren, zum Beispiel mit Volkwin Marg vom Büro Gerkan, Marg und Partner (gmp). Das Büro war am Bau der Stadien von Berlin, Frankfurt und Köln maßgeblich beteiligt, und Marg bringt den Trend zu den modernen Fußballarenen gleich auf den Punkt: „Im Stadionbau gibt es eine deutliche Entwicklung zur Klassenbildung im Publikum. Es ist eine Merkantilisierung im Sport erkennbar, die die Menschen in Verbraucher-Kategorien teilt“ – den stehenden und anfeuernden Fan, das Normalpublikum, den Business-Typ und den VIP-Bereich.

Letzterer ist in der Regel nicht zufällig irgendwo untergebracht, sondern stets auf einer bestimmten Stadionseite, wofür Marg eine Erklärung parat hat: „Die hervorgehobene Konsumentenklasse sitzt vornehmlich auf der Westseite, was vom noblen englischen Rennsport abgeleitet ist, weil man nicht gegen die tief stehende Sonne im Westen sehen wollte.“ Zwar spielt die Sonneneinstrahlung heute kaum eine Rolle mehr, wie Marg anmerkt, aber dieses Detail zeigt, wie Distinktionsmechanismen selbst vom Barbarensport Fußball aufgegriffen werden können. Mehr noch: Die VIP-Gäste sind im Gegensatz zur Masse der Normalo-Fans inzwischen auch finanziell ausschlaggebend. So kosten die 106 Logen in der neuen Münchener Allianz Arena jeweils bis zu 240.000 Euro im Jahr. Sollten sie alle vermietet werden, wäre die Hälfte der Finanzierungskosten von 340 Millionen Euro binnen Jahresfrist wieder eingespielt.

Stöbert man durch das Stadion-Buch, bekommt man – trotz aller architektonischen Differenzen und ingenieurstechnischen Meisterleistungen bei den Dachkonstruktionen – den Eindruck einer gewissen gestalterischen Uniformität der neuen Fußballarenen: Sie sind medien- und familiengerecht, ausgestattet mit komfortablen Schalensitzen, zumeist überdacht und konzipiert für multifunktionale Nutzungen. Gemein ist ihnen auch, dass sie – im Unterschied etwa zu den antiken Vorläufern der Amphitheater – nicht für die Ewigkeit geschaffen wurden. So geht die Uefa davon aus, dass damit zu rechnen sei, „dass die durchschnittliche Lebensdauer eines modernen Stadions auf 30 Jahre oder weniger sinken könnte“. Ob solch kurzlebige Stadion zu erinnerungswürdigen öffentlichen Bühnen werden können, in denen sich das menschliche Leben und Leiden verewigt, ist zumindest fraglich. OLE

Gernot Stick: „Stadien der Fußballweltmeisterschaft 2006“. Birkhäuser Verlag, Basel/Berlin/Boston 2005, 110 Seiten, 29,90 €