Betreuungs-Kultur: Weniger Weisungsbefugte

Die Bremer Werkgemeinschaft existiert seit 37 Jahren - und schenkt sich zum Abschied der Gründerriege die komplette Abschaffung einer Hierarchie-Ebene.

Mittagszeit im Klamottencáfe der Bremer Werkgemeinschaft. Bild: BWG

BREMEN taz | „Am Anfang saßen wir alle in einer Küche und hatten zwei Betreuungs-WGs über uns“, beschreibt Stefanie Hüsing die Anfänge der Bremer Werkgemeinschaft. Hüsing ist dort Leiterin des Bereichs „Betreutes Wohnen“. Mittlerweile hat die gemeinnützige Einrichtung, die 1976 im Zuge der Psychiatrie-Reform gegründet wurde, 100 MitarbeiterInnen und einen Jahresumsatz von vier Millionen Euro. Im kommenden Jahr soll er auf 4,5 Millionen steigen, da kürzlich zwei weitere Häuser mit jeweils 20 Betreuungsplätzen hinzukamen. Insgesamt werden nun 350 psychisch kranke Menschen betreut.

Generationswechsel vorbereiten

Projekte, die vor rund 30 Jahren gegründet wurden, haben derzeit ein Problem: den Generationswechsel. Falls das mit der personellen Kontinuität so gut funktioniert hat wie bei der Werkgemeinschaft, sind die GründerInnen zwar noch vorhanden, gehen nun aber mehr oder weniger en bloc in Rente – womit sich die Frage stellt, wie die Projektphilosophie weitergegeben werden kann. Bei der Werkgemeinschaft werden heute auf einen Schlag vier von sechs Mitgliedern des Leitungsteams verabschiedet – zelebriert mit einem großen Fest unter dem Motto „Übergänge“ ab 16 Uhr im Schuppen II in der Überseestadt.

Wie aber wurden die einschneidenden personellen „Übergänge“ vorbereitet? „Wir wollten die Struktur des Küchentisches erhalten“, sagt Hüsing. Das heißt: kurze Wege, schnelle Informationen, eine Kultur der unmittelbaren Auseinandersetzung. Strukturell will das die Werkgemeinschaft durch die Abschaffung einer kompletten Hierarchie-Ebene verwirklichen: Mit Ausnahme der forensischen Aufgabengebiete sind alle Bereichsleitungen abgeschafft – also die Jobs der feierlich zu Verabschiedenden.

„Wir wollten keine neuen Chefs von Außen holen“, erklärt Lutz-Uwe Dünnwald, der frühere Geschäftsführer des Bremer Theaters, der diese Funktion mittlerweile bei der Werkgemeinschaft ausübt. Statt dessen wurden ausgewählte Mitarbeiter zu Team-Leitern mit erweiterten Befugnissen fortgebildet, die Verantwortung also auf mehrere Schultern verteilt. Der Vorteil aus Dünnwalds Sicht: Die Team-Leiter sind einerseits noch selbst unmittelbar ins Betreuungs-Geschehen eingebunden, haben andererseits auch direkten Zugang zur Geschäftsführung.

Hinter diesen neuen „Verbindungsleuten“ liegen nun gut zwei Jahre intensiver Fortbildung, finanziert mit Hilfe des Europäischen Sozialfonds (EFS). Aber ist es nicht problematisch, wenn bisherige Kollegen zu Vorgesetzten werden? „Das ist immer ein kritischer Schritt, trotzdem gab es keine Probleme“, versichert Hüsing – im Gegensatz zur Situation vor 30 Jahren. „Da haben wir im Team endlos das Für und Wider von Hierarchien diskutiert“, sagt Hüsing. Man sei froh gewesen, wenn man dann in den Betreuten-WGs wieder „normale Gespräche“ habe führen können.

Alternative zur Psychiatrie

Inwieweit ist die Umstrukturierung auch ökonomisch motiviert? „Wir haben dadurch keine Personalmittel eingespart“, sagt Dünnwald. Entscheidend sei gewesen, die Weitergabe von Erfahrungen, Kowhow und Firmenphilosophie sicherzustellen. Zu den besonderen Erfahrungen der Werkgemeinschaft gehört auch die mit der Intensivbetreuung. Seit 15 Jahren betreibt sie ein in Bremen einzigartiges Modell, in dem „austherapierte“ Kranke Mieter statt Insassen einer Einrichtung werden können – gleichwohl aber von den Möglichkeiten einer heimähnlichen Versorgungsstruktur profitieren. „Austherapiert“ ist hier negativ zu verstehen: Es geht um Menschen, die als nicht mehr behandelbar gelten, für die beispielsweise die psychiatrischen Altenstationen im Klinikum Ost eine Endstation bedeuten würden.

Für solche Menschen eine Alternative zu Psychiatrie oder Heim aufzubauen, war 1997 der Anspruch der Werkgemeinschaft. „Nach einem halben Jahr sind die bestimmt alle wieder in der Klinik“, wurde uns damals gesagt, berichtet Peter Völker – einer der nun Ausscheidenden, der das „Intensiv Betreute Wohnen“ (IBW) mit aufgebaut hat. Bis auf wenige Einzelfälle habe das Modell funktioniert, heute seien dessen 20 Plätze sehr begehrt. Ein Viertel wird von forensischen Nutzern eingenommen, körperliche Pflege ist bis zur Pflegestufe I möglich.

Doch warum ist das Modell trotz seines Erfolgs im Bremer Rahmen einzigartig geblieben? „Heute könnten wir so etwas aus finanziellen Gründen nicht mehr neu aufbauen“, sagt Dünnwald. Der im IBW praktizierte Betreuungsschlüssel macht die Zurückhaltung auch der anderen Träger verständlich: Während im IBW ein Betreuer/Nutzer-Verhältnis von 1:1,9 existiert, beträgt er im „normalen“ betreuten Wohnen mittlerweile 1:6,5. „Das hat sich in den letzten Jahren immer weiter zu Ungunsten der Betreuten verschoben“, sagt Dünnwald. Seit Ende der 90er sei die Finanzierung der psychiatrischen Versorgung zunehmend schwieriger. Doch trotz eines sorgenvollen Blicks in die Zukunft: Aktuell habe die Werkgemeinschaft keine ökonomischen Krisen, sagt der Geschäftsführer. Und die Ausscheidenden? „Ich gehe mit einem sehr zufriedenen Gefühl“, sagt Hüsing unisono mit ihren KollegInnen. Und steht vom Küchentisch auf.

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