: Neem im Alten Land
Extrakte aus den Samen des Neembaumes erweisen sich als wirksame Mittel gegen Schädlinge. In Indien wird die Substanz seit Jahrhunderten genutzt. Jetzt findet sie ihren Weg nach Europa
VON DIERK JENSEN
Rotbackige Äpfel, wohin man schaut. Sorten wie Jonagold, Rubinette, Elstar und Topas gedeihen auf 40 Hektar Obstplantagen des Obsthofes zum Felde in Jork – mitten im Alten Land südlich der Elbe, einem der größten Obstanbaugebiete in Europa. Die Familie zum Felde verabschiedete sich 1996 vom konventionellen Anbau, wurde Mitglied vom Anbauverband Naturland und erzeugt seither nach Richtlinien des ökologischen Landbaus köstliche Früchte.
„Das heißt aber nicht, dass wir keinen Pflanzenschutz betreiben“, stellt Heinrich zum Felde zwischen Apfelkisten stehend fest, „auch Bioäpfel kommen ohne Pflanzenschutz nicht aus.“ Doch sind die Methoden und die Philosophie in der Biolandwirtschaft vollkommen andere als in der konventionellen: Statt auf schwer abbaubare synthetische Präparate greifen Biolandwirte auf biologische Produkte zurück, um die Bestände vor Pilzen und Insekten zu schützen.
Als verträgliches Pflanzenschutzmittel setzt der Obstbauer zum Felde auch ein Neemprodukt ein. Es enthält den Wirkstoff Azadirachtin, der aus den Samen des Neembaums gewonnen wird. Dieser Baum stammt ursprünglich aus Indien und seine Wirkstoffe werden dort in der Landwirtschaft und Medizin schon seit Jahrhunderten verwendet. Mittlerweile seit sieben Jahren setzt zum Felde den Wirkstoff auch in seinen Beständen ein. Mit Erfolg. „Seit wir Neem einsetzen, haben wir die Population der Mehligen Apfelblattlaus eindämmen können.“
Das Präparat stammt von der Firma Trifolio-M, die das einzige in Deutschland offiziell zugelassene Pflanzenschutzmittel aus Neem herstellt und vertreibt. „Der Wirkstoff Azadirachtin verhindert im Insekt den Ausstoß eines bestimmten Hormons, was zur Folge hat, dass sich die Insekten nicht mehr häuten und daher auch keine Nahrung mehr aufnehmen“, erklärt Edmund Hummel von der Firma Trifolio-M aus Lahnau. Der kleine mittelständische Extrakt-Hersteller bezieht den Rohstoff aus Südindien. „Zum Teil werden die Neemsamen schon aus Plantagen gewonnen“, erzählt Firmengründer Hubertus Kleeberg. Im Jahre 1987 verabschiedete sich Kleeberg von der Marburger Universität, um in der freien Wirtschaft aus dem damals aus Indien erhältlichen Neempulver ein hochwirksames Konzentrat zu entwickeln. Mit dieser Absicht begann für ihn eine beschwerliche Reise durch Prüfinstanzen, bei der am Ende die Präparate von den Pflanzenschutzämtern zugelassen wurden. „Das ist ein zeitaufwändiger und kostspieliger Akt“, erzählt Kleeberg, der seine kleine Produktpalette mittlerweile in 25 Ländern vertreibt.
Die Pflanzenschutzmittel weisen eine einprozentige Wirkstoffkonzentration auf. Dabei sind die Wirkstoffe innerhalb von nur 14 Tagen durch Licht, Wasser und Bodenbakterien abgebaut. Während sich die Natur über die schnelle Abbauzeit freut, ist das für die Anwender ein Handicap, endet doch die Wirkung nach relativ kurzer Zeit.
Um die vielfältigen Wirkungen der Samen, aber auch der Blätter und der Rinde des Neembaums weiß man in Indien schon seit fast 2.000 Jahren. Besonders die ungefähr 30 bis 50 Kilogramm Früchte, die jedes Jahr am rasch wachsenden Baum heranreifen, stehen im Mittelpunkt des Interesses. Diese werden nicht gepflückt, sondern fallen während der Regenzeit von den Ästen und werden dann aufgesammelt. Die daraus gewonnenen Extrakte erweisen sich gegen mehr als 200 Arten von Insekten als wirksam.
In vielen Dörfern Indiens trifft sich die Dorfgemeinschaft traditionell unter einem Neembaum, einfach weil in dessen Nähe nur ganz wenige Insekten herumfliegen. Sie meiden den Duft des Baumes, der in der indischen Volksmedizin auch gegen Fieber und sogar gegen Schlangenbisse eingesetzt wird. Selbst Heuschreckenschwärme, die auch auf dem indischen Subkontinent einfallen, können dem Baum nichts anhaben.
Die Wirksamkeit des Baumes hat große ökonomische Begehrlichkeiten geweckt. Die wachsende Nachfrage außerhalb Indiens, insbesondere aus dem ökologischen Landbau in Europa und Nordamerika, hat die amerikanische Firma W. R. Grace bewogen, auf ein spezielles Neem-Insektizid ein europäisches Patent anzumelden. Unterdessen stellt ihre indische Tochterfirma Margo in einer Produktionsanlage im Ort Tumkur unweit von Bangalore im indischen Bundesstaat Karnataka schon seit vielen Jahren mehrere Neemprodukte für die einheimische Landwirtschaft her. Dabei steht Margo im ganz normalen Wettbewerb mit vielen anderen Herstellern ähnlicher Präparate in Indien.
Daher wurde der Versuch der amerikanischen Mutterfirma, dafür ein europäisches Patent zu erwirken, von vielen Seiten als Diebstahl von traditionellem Wissen verurteilt. „Das Patent täuscht vor, dass es sich um etwas Neues handelt, dabei ist die Anwendung von Neemextrakten in Indien schon seit Jahrhunderten Gang und Gäbe“, kritisiert beispielsweise Christoph Then von Greenpeace Deutschland. Das Europäische Patentamt in München sah die Sachlage ähnlich. Folgerichtig bestätigte es im März dieses Jahres die Einsprüche von drei Organisationen – darunter IFOAM – und wies den Patentantrag von W. R. Grace zurück. Diese Entscheidung gilt als ein wichtiges Schlag gegen die „Biopiraterie“, bei der sich global agierende Konzerne am Wissen um Pflanzen bereichern wollen.
Hauptabnehmer der Neemprodukte hierzulande sind Obstbauern aus den ökologischen Anbauverbänden. Aber auch Landwirte aus dem integrierten Anbau fragen mehr und mehr nach den Extrakten des indischen Wunderbaums nach. Allerdings wächst auch dessen Wirkung nicht in den Himmel. „Neem hilft beispielsweise nicht gegen den Apfelwickler und auch nicht gegen die Blutlaus“, sagt Heinrich zum Felde. „Das sind eben versteckt lebende Schädlinge, die kann man nicht mit Neem bekämpfen, weil diese den Wirkstoff nicht oral aufnehmen“, erklärt Fachmann Edmund Hummel.