Der Ersatz vom Ersatz

Die deutschen Handballerinnen dürfen nur als zweiter Nachrücker zur WM. Dennoch träumen sie von einer Medaille

BERLIN taz ■ Ein beängstigender Cut unterm rechtem Auge verziert ihr Gesicht, ein herbes Andenken aus dem letzten Vorbereitungsspiel gegen Slowenien. Aber Anna Loerper ignoriert den Schönheitsfleck, ihre Vorfreude bremst er schon gar nicht. „Das ist ja meine erste Weltmeisterschaft“, sagt die 21-Jährige vom TSV Bayer Leverkusen, „ich kann es kaum erwarten.“ Ihre Kolleginnen aus der Handball-Nationalmannschaft reden ähnlich euphorisch von der anstehenden WM in St. Petersburg, und sie brennen sichtbar vor Ehrgeiz vor dem ersten Vorrundenspiel gegen Polen am Montag (17 Uhr, live auf Eurosport). „Wir können um Edelmetall spielen, wenn wir uns die Kräfte richtig einteilen“, behauptet gar Grit Jurack, mit 196 Länderspielen die erfahrenste Frau im DHB-Dress.

Jurack spielt in Dänemark, beim Spitzenklub Viborg, und sie hat dort, wo das Volk den Frauenhandball liebt, seltsame Dinge vernommen: Viele wetten für die WM auf Deutschland. Vielleicht, weil die Dänen sich erinnert fühlen an diese unglaubliche Geschichte, die sie 1992 erlebten. Damals wurden die Fußballer aus dem Urlaub gerufen, um das boykottierte Jugoslawien bei der EM zu vertreten – und Dänemark gewann sensationell den Titel. Den ersten Teil dieses Märchens jedenfalls haben die deutschen Frauen im Juni erlebt. Da waren sie gerade gegen Polen in den WM-Play-Offs gescheitert und schwer deprimiert, denn irgendwie war damit der Niedergang fortgesetzt worden. Nicht nur, dass sie Olympia 2000 und 2004 verpasst hatten, auch bei der WM 2001 in Italien schauten sie nur zu, 2003 in Kroatien wurden sie auch nur Zwölfte.

Aber dann kam diese Nachricht: Taipeh verzichtete aus finanziellen Gründen auf die WM, Nachrücker Kasachstan durfte nicht starten, weil es 2003 kurzfristig zurückgezogen hatten. Da die Deutschen bei der EM 2004 in Ungarn Fünfte geworden waren, dürfen sie nun doch nach St. Petersburg fahren. Nach dem unverhofften Geschenk spielt die Mannschaft befreit auf wie lange nicht mehr, jedenfalls absolvierte sie die beste Vorbereitung seit Jahren: In zehn Spielen verlor sie nur einmal.

Sie fühlen sich gar zu Höherem berufen: „Wir haben das Ziel, Frauenhandball wieder an die Spitze zu führen und wollen zeigen, wie schön Frauenhandball ist“, sagt Kreisläuferin Anja Althaus (DJK/MJC Trier). Das Selbstbewusstsein speist sich vor allem aus einem neuen Mannschaftsverständnis. Noch nie, sagt Jurack, habe sie vor Turnieren eine derartige Harmonie innerhalb der stark verjüngten Mannschaft erlebt.

Armin Emrich scheint dieser jugendliche Überschwang nicht ganz geheuer. Die Mannschaft sei zwar mittlerweile „sehr stabil in der Abwehr“, findet der Bundestrainer, und sie „glaubt an den Weg, den wir eingeschlagen haben, selbst dann, wenn es stressig wird“. Und er sagt, angesprochen auf die Medaillenambitionen : „Find ich gut.“ Andererseits warnt er angesichts der jüngsten Geschichte vor allzu überzogenen Erwartungen: „Wir dürfen keine Luftschlösser bauen.“ Zu Hochrechnungen will Emrich sich nicht hinreißen lassen, bevor die Mannschaft nicht die Partien in der Vorrunde gegen Polen, Österreich, Dänemark, Brasilien und Elfenbeinküste absolviert hat und in die Hauptrunde eingezogen ist. Die Weltspitze mit den Favoritinnen aus Dänemark, Russland, Rumänien und Südkorea liege „eng beieinander“. Deshalb sein Motto: „Wir rechnen mit dem Allerschlimmsten und hoffen auf das Allerbeste.“ ERIK EGGERS