Bleiche Ballerinen

In Köln wurde Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ erst vergeigt, dann abgesetzt. Stefan Soltesz und Dietrich Hilsdorf zeigen nun in Essen, wie es richtig geht: präzise und mit souveränem Handwerk

VON REGINE MÜLLER

Wüsste man nicht, dass das kölsche Selbstbewusstsein allen Anfechtungen trotzt, müsste man annehmen, dass man dort inzwischen in Sack und Asche geht. Schlimm genug, dass im Opernhaus am Offenbachplatz unlängst eine als Kassenschlager gedachte Produktion von „Orpheus in der Unterwelt“ so vergeigt wurde, dass man sie nach saftigem Premierenskandal vom Spielplan nehmen musste. Und nun zeigen die Kollegen am Essener Aalto-Theater den Kölnern auch noch so richtig, wie man Offenbach macht. Peinlich. Offenbart doch der Vergleich überdeutlich, wie sehr das schleifende, längst schon den Mief anmaßender Bequemlichkeit ausdünstende Kölner Haus gegen einen straff geführten Betrieb wie das Aalto-Theater abfällt.

In Essen kocht der Chef selbst: Für Stefan Soltesz ist Operette keine Nebenveranstaltung, er weiß wohl, dass das Leichte das Schwerste überhaupt ist. Der ganze Apparat ist auf messerscharfe Präzision getrimmt, die großen Ensembles stehen kerzengrade, kein wackelnder Anschluss streut Sand ins Getriebe, keine klappernden Einsätze verwischen die Konturen. So entsteht auf der Basis der Offenbach‘schen ersten Fassung von „Orpheus in der Unterwelt“ ein pulsierendes, temporeiches Musiktheater, das mit der Betulichkeit des Genres Operette nichts mehr am Hut hat.

Soltesz‘ Offenbach klingt aufregend schlank und trocken, ist dabei zu poetischer Auffächerung des Klangs fähig, bisweilen überraschend zart, mal melancholisch, dann wieder nervös auffahrend, stets hellwach und voller Esprit. Nahtlos fügt sich der exzellente Chor ins musikalische Konzept, auch das große, handverlesene Solistenensemble scheint wie aus einem Guss. So richtig auf Trab bringt den Abend aber erst die rasante Regie des einstigen Abonnentenschrecks Dietrich Hilsdorf. Mit souveränem Handwerk in der Dialogregie und Eleganz in der Organisation von Massenszenen setzt Hilsdorf ein kühnes Montagekonzept um. In seiner Version gibt es keine kalauernden Aktualisierungen, kein Schenkelklopf-Kabarett, keine Tagespolitik. Er verlegt die Handlung in ein heruntergekommenes Pariser Theater anno 1913 (Bühne: Dieter Richter) und erzählt – so der Untertitel – eine Geschichte „aus dem bürgerlichen Heldenleben“.

Aus Jupiter wird der pleite gegangene Theaterprinzipal Monsieur Jupin, Eurydice ist Sängerin, ihr Gatte Orphée Konzertmeister, Pluton Souffleur, die „Öffentliche Meinung“ Putzfrau und der Prinz von Arkadien Logenschließer. Die knappen Dialoge hat Hilsdorf bös und lakonisch zugespitzt; aufs Korn nimmt er dabei die ehernen Hierarchien des Theaters und seine erniedrigenden Abhängigkeiten. Trotz hohen Tempos und schmissiger Musikalität ist die Szene durchweht von einer Aura der Morbidität, der Schwindsucht bleicher Ballerinen wie auf Bildern von Degas, der Rotlicht-Dekadenz von Toulouse-Lautrec.

Durch den Trick des Theaters im Theater und die Entzauberung des mythischen Personals verwischen im Laufe des Abends die Ebenen der Handlung mehr und mehr, das Spiel mit dem Spiel wird zum Vergnügen an sich selbst, die ohnehin wirre Handlung zum zeitlosen Ritual des Geschlechterkampfs. Ein perfides Vergnügen, doch lustvoll und geistreich, das immer mehr Fahrt aufnimmt, bis sich alles im ekstatischen Wirbel des finalen Can-Can auflöst.

Großer und vor allem verdienter Jubel, insbesondere für die herausragenden Sängerdarsteller Astrid Kropp (Eurydice) und Rüdiger Frank (John Styx, alias Prinz von Arkadien).

Nächste Termine: 10., 13., 15., 26. und 31. Dezember. Karten: 0201-812 22 00