: Übung in Spaltung
Die Angst vor den Politikdarstellern: Platon und Jean-Jacques Rousseau fürchteten das Theater, weil es zwischen Darsteller und Rolle trennen lehrt. Das postdramatische Theater entdeckt gerade in dieser Differenz den demokratischen Kern des Theaters
VON JULIANE REBENTISCH
Eine Besonderheit des Theaters ist es von jeher gewesen, Handlungen darzustellen und zwar im Spiel. Dieser Umstand begründet schon Platons praktischen Vorbehalt gegen das Theater. Unter dem Einfluss des Theaters nämlich, so Platons Verdacht, kommt es zu einer Theatralisierung des Politischen selbst. Die Aufmerksamkeit wird gewissermaßen vom Handeln auf dessen Darstellung abgelenkt, so dass die politische Sphäre schließlich in Politikdarsteller auf der einen und Publikum auf der anderen Seite zerfällt. Entsprechend hat der antike politische Diskurs den Zerfall des Stadtstaats Athen unter das Stichwort der Theatrokratie, der Theaterherrschaft, gestellt.
Ganz ähnliche Argumente finden sich auch heute noch. Man denke an den andauernden Erfolg von Guy Debords Kritik an der Gesellschaft des Spektakels oder an die zahlreichen kulturpessimistischen Deutungen der Rolle, die die Medien für die Politik spielen.
Dennoch ist für diesen Typus der zeitgenössischen Kulturkritik nicht Platon die entscheidende Referenz, sondern Jean-Jacques Rousseau. Und zwar aufgrund seines Platon entgegengesetzten Bezugs zur Demokratie. Während Platon die Demokratie als Wurzel der Theatrokratie identifiziert und die Theatrokratie als deren wahres Gesicht, ist die Demokratie für Rousseau umgekehrt das Gegenteil der Theatrokratie – und das Theater entsprechend eine Gefahr von außen, vor der man die Demokratie schützen muss. Aufgrund dieser Überzeugung hat Rousseau in einem berühmten Alterswerk noch einmal all seine intellektuellen Kräfte mobilisiert, um den Versuch zu unternehmen, den Bau eines Theaters in seiner Stadt – es ging um Genf – zu verhindern. Statt wie Athen an der Theaterbegeisterung zugrunde zu gehen, solle Genf sich lieber an den „bescheidenen Festen und Spielen“ Spartas orientieren – an „guten“ Spektakeln mithin, welche die republikanische Gemeinschaft Genfs nicht in Darsteller und Publikum zerteilen, sondern als Gemeinschaft versammeln. Die Idee von Demokratie, die dem zugrunde liegt, ist die einer Versammlung von Gleichen, in der niemand dem anderen etwas vorspielt bzw. vormacht und niemand bloß passiv zusieht, sondern alle gemeinsam handeln.
Dass Frauen nach Rousseaus Vorstellung strikt in den Bereich des Privaten verwiesen werden und Fremde möglichst gar nicht erst auf die Idee kommen sollen, in die Genfer Republik zu kommen, muss indes schon einen ersten Zweifel hinsichtlich der Frage wecken, ob das Wesen der Demokratie mit dem Gedanken einer Versammlung von Gleichen tatsächlich schon hinreichend erfasst ist. Denn was in Rousseaus durchaus beklemmendem Bild einer homogenen republikanischen Gemeinschaft ausgeblendet wird, ist eben jener Aspekt, den Platon – in kritischer Absicht natürlich – die „Schrankenlosigkeit“ der Demokratie nannte: dass nämlich buchstäblich jeder Beliebige sich auf die Demokratie und ihr zentrales Prinzip der Gleichheit aller berufen kann, um in ihrem Namen zu sprechen. In der Ausblendung dieser Möglichkeit ist Rousseaus provinzielle Vision der Genfer Republik tatsächlich zutiefst antidemokratisch: Die demokratische Idee einer Gleichheit von Beliebigen in Freiheit wird hier restlos ersetzt durch eine Gleichheit von de facto Gleichen, die den rigiden Ausschluss von Nichtgleichen voraussetzt, seien es Frauen, Fremde oder deviante männliche Mitglieder der Republik.
Wenn man aber gegen solche Schließungen das Moment der Offenheit betont, mit der die Demokratie ihrem eigenen Prinzip nach jedem Beliebigen als gleichermaßen frei gegenüberzutreten beansprucht, so bedeutet dies im selben Zug, die Theatrokratie nicht als eine der Demokratie externe, sondern als eine ihr interne Bedrohung anzuerkennen. Denn die Möglichkeit, dass jeder Beliebige sich auf die Demokratie berufen kann, um in ihrem Namen zu sprechen, schafft zwangsläufig auch Raum für Charismatiker aller Art, die bereit sind, ihren eigenen Willen mit dem des Volkes zu identifizieren und sich eine Souveränität anzumaßen, die sich gegen die jeweils etablierte staatliche richten kann. Mit anderen Worten: Der universalistische Zug, mit dem sich die Demokratie potenziell der Freiheit aller verschreibt, öffnet sie zugleich für die Möglichkeit der Revolution wie der Theatrokratie.
Rousseau umgeht das Problem des Verhältnisses von Souveränität und Demokratie mit der ebenso ideologischen wie illusionären Vorstellung eines vorab homogenen politischen Raums, in dem sich die Frage nach der Bildung des Volkswillens – etwa durch den souveränen Akt, mit dem jemand im Namen aller spricht – gar nicht stellt. Einen solchen Willen aber gibt es niemals jenseits seiner politischen Repräsentation, das heißt: es gibt ihn niemals jenseits der damit zugleich etablierten Trennung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, Regierenden und Regierten; es gibt ihn folglich niemals jenseits von Herrschaftsverhältnissen.
Das Theater nun macht diesen Zusammenhang explizit, indem es im Spiel die Trennungen exponiert, die jedem politischen Repräsentationsverhältnis zugrunde liegen: zum einen die Trennung zwischen Person und Rolle – die Repräsentanten des Volkes haben in der Politik wie auf dem Theater immer zwei Körper; zum anderen die Trennung zwischen Akteuren und Publikum. Das Theater hat gerade, indem es Formen politischer Repräsentation als Repräsentation zu exponieren vermag, eine potenziell denaturierende, das heißt kritische Pointe.
So kann sich das Theater beispielsweise gegen die vermeintlich repräsentationsfreien und vorpolitischen Gemeinschaftsmythen richten, die gerade deshalb nur allzu gut zu den Souveränitätsspektakeln des Faschismus gepasst haben. Deren klaustrophiles Design in seine einzelnen Bestandteile zerlegt zu haben, ist das Verdienst etwa von Christoph Marthaler. Das Theater kann aber auch Politiker auf die Bühne und damit in ihren Repräsentationsstrategien vor eben jenes Publikum bringen, das sie zu vertreten behaupten: Das ist einer der Einsätze von Christoph Schlingensief. Und das Theater kann selbstkritisch die illusionistischen Techniken reflektieren, mit denen sich früher das dramatische Theater gegen seine eigene Theatralität zu wenden versucht hatte und die heute vor allem im Film fortleben. Dies ist eines der Projekte von René Pollesch.
Dessen Stück „Cappucetto Rosso“ zum Beispiel beginnt mit ebenso witzigen wie intelligenten Reflexionen über die Hitlerdarstellungen in den Filmen von Eichinger bzw. Hirschbiegel und Breloer. Polleschs Schauspieler spielen hier Schauspieler, die sich auf die Proben für die Bühnenversion von Lubitschs Film „Sein oder Nichtsein“ vorbereiten, dessen Thema ja bekanntlich Schauspieler sind, die Nazis spielen, um ihnen zu entkommen. Im Backstage-Bereich, der bei Pollesch die eigentliche Bühne ist, diskutieren die Schauspielerfiguren nun unter anderem die zweifelhafte Leistung des komplett in den Führer eingefühlten Bruno Ganz sowie Tobias Morettis Problem, dass sein Hitler nie neben einem Schäferhund auftreten darf, weil dessen Bild dann sofort in das bekannte des Partners von Kommissar Rex umschlagen würde. Mit ewigen Nazidarstellungen kann man keine Politik machen, sagt Sophie Rois später im Stück. Wer wirklich politisch handeln will, soll Jura studieren. Los, sagt sie dann zum Publikum, geht alle raus, Jura studieren. Alle bleiben natürlich sitzen und verfolgen die andere Politik, die sich dort, als andere Darstellungspolitik, auf Polleschs Bühne entfaltet.
Denn die politische Dimension des Theaters entfaltet sich bei allen drei Regisseuren genau in dem Maße, in dem das Theater seine Struktur nicht illusionistisch verdeckt, in dem es, um mit Hans-Thies Lehmann zu sprechen, postdramatisch geworden ist. Statt wie noch Brecht das Theater gegen seine eigene Struktur kehren zu wollen, kehrt das avancierteste Theater heute seine eigene Theatralität ausdrücklich hervor. Dieses Theater zielt denn auch nicht mehr auf Gemeinschaft; im Gegenteil, und das haben Platon und Rousseau schon ganz richtig gesehen, es trennt: die Personen von ihrer Rolle und die Akteure vom Publikum.
Gerade aufgrund dieser Differenzstruktur nun arbeitet das Theater aber gegen die Theatrokratie. Denn Theatrokratie ist weder die letzte Wahrheit über die Demokratie (sondern eine ihr immanente Gefahr) noch ist sie die Wahrheit über die politischen Wirkungen des Theaters. Vielmehr ist die Theatrokratie die Wahrheit über die repräsentationspolitische Dimension absoluter und eben darin undemokratischer Souveränität. Denn diese ist dadurch bestimmt, sich als Repräsentation unsichtbar zu machen. So ist die Ästhetisierung des Politischen im Faschismus deshalb theatrokratisch zu nennen, weil in ihr alles ins Bild der Einheit zwischen Führer und Volk eingeht – es gibt zu diesem Spektakel politischer Souveränität kein Außen, kein Publikum mehr, vor dem es sich produziert.
Gleiches gilt aber auch für die „bescheidenen Feste und Spiele“ Spartas, die Rousseau in Genf inszeniert sehen wollte. Als deren Paradigma benennt Rousseau bezeichnenderweise den Tanz einer Kompagnie. Bereits der junge Jean-Jacques, so gesteht uns der alte, geriet angesichts der „Übereinstimmung von fünf- oder sechshundert uniformierten Männern“ ins Schwärmen, „die einander alle bei der Hand halten und eine lange Kette bilden, die sich im Takt und ohne jede Unordnung tausendfach vor und zurück durch tausend sich verschieden entwickelnde Figuren windet“. Wenn dieses Bild der einmütig zum Ornament der Masse versammelten Kompagnie latent das bedrohliche Gegenbild demagogischer Verblendung mitführt, so deshalb, weil im Ideal der absoluten, sich als solche auslöschenden Repräsentation alle Differenz getilgt werden soll: die horizontale zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft wie auch die vertikale zwischen Repräsentant und Repräsentierten. Geschlossenheit ist das Bild der Masse als Bild absoluter Souveränität.
Die Demokratie findet ihr Mittel gegen die Gefahr der Theatrokratie mithin gerade nicht im Phantasma absoluter Souveränität, sondern das demokratische Mittel gegen die Gefahr der Theatrokratie liegt im Bewusstsein eines für die Demokratie konstitutiven Risses zwischen dem unbestimmten demos auf der einen und der kratía, der Macht oder Kraft der Souveränität, die dem demos immer wieder eine politische Form gibt, auf der anderen Seite. Dies Bewusstsein aber geht notwendig einher mit der Einsicht in den Zusammenhang zwischen Souveränität und Repräsentation. Die demokratische Souveränität ist darin eine relative, dass sie um ihren Status als Repräsentation ebenso weiß wie um ihre Abhängigkeit von der Anerkennung durch eine eben nicht homogene Öffentlichkeit.
Wenn das Theater dadurch, dass es an die Differenzstruktur auf dem Grund aller politischen Repräsentation erinnert, als eine wesentlich demokratische Institution gelten kann, so ist mit Demokratie indes nicht diese oder jene demokratische Verfassung gemeint, sondern deren intern gespaltene Struktur, die sie, wie Jacques Derrida formuliert hat, im Kommen hält. Die Funktion, die das Theater heute (mit-)übernimmt, ist daher nicht die der Gemeinschaftsbildung, sondern die der Trennung, um die zunehmend im weltpolitischen Maßstab zu diskutierende Frage nach der Konstitution des demos der Demokratie offen zu halten.
Der Text ist der gekürzte Vorabdruck eines Essays, der im März 2006 in der Publikation „Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne?“ erscheint, herausgegeben von Felix Ensslin und Theater der Zeit, Recherchen 34, zirka 250 Seiten, 12 €, ISBN 3-934344-66-6