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Archiv-Artikel

Die Angstfreie

„Sie war unerschrocken und links. Heute passt sie sich an“

AUS FRIEDRICHSHAFEN GEORG LÖWISCH

Der wichtigste Moment in Ute Vogts Karriere muss der Tag gewesen sein, an dem sie die Angst vor ihren Lehrern verlor. Vielleicht war es, als der Religionslehrer schrie, sie habe auf dem Gymnasium nichts zu suchen. Oder als der Mathelehrer sie hundert Mal den Satz des Pythagoras schreiben ließ und die Seiten vor den Augen der Klasse zerriss. Fest steht, dass sie irgendwann nicht mehr verletzt war, sondern wütend, und dass diese Wut ihr Energie gegeben hat. Von da an ist sie ihren Weg gegangen, auch wenn sie fertig gemacht wurde. Und diese Energie ist spürbar, wenn sie jetzt, nach einem Zehnstundentag, übers Parkett eilt, mit einem Satz die Stufe zur Bühne nimmt, das Kreuz durchdrückt und ins Publikum schaut, als komme sie gerade aus dem Urlaub.

Sie ist ins Graf-Zeppelin-Haus in Friedrichshafen am Bodensee gekommen, um über das SPD-Programm für die Wahl in Baden-Württemberg zu diskutieren. Es heißt nicht Wahlprogramm, sondern Regierungsprogramm. Streng genommen hat die SPD seit Gründung des Südweststaats 1952 noch nie den Regierungschef gestellt. Aber das ist es, was die Sozialdemokraten an Ute Vogt mögen: Sie vermittelt ihnen das Gefühl, eine Chance zu haben. „Ute Vogt“, hat der Vorredner gerufen: „Kandidatin für das Amt der Ministerpräsidentin!“

Es geht um Schulpolitik. Sie malt mit dem Zeigefinger Kringel in die Luft, dass es ein wenig nach Theater-AG aussieht. Aber die 150 Lehrer, Elternbeiräte und Genossen vom SPD-Ortsverein hören zu. Sie mögen die Ute, die Politik mit Geschichten aus ihrer eigenen Schulzeit übersetzt. Sie redet und redet, kostet Szenenapplaus nicht lange aus, spricht doppelt so lang, wie geplant. Sie setzt sich für Schüler ein, für Erzieherinnen und berufstätige Mütter. Sie stellt ihren CDU-Konkurrenten Günther Oettinger als einen hin, der Kindern misstraut, wenn er vorschlägt, Zeugnisse direkt den Eltern zu übergeben. Am Ende stehen die Leute hinterm Mikrofon und erzählen ihre eigenen Erfahrungen, bis der Moderator mahnt, dass es spät ist.

Als sie am nächsten Morgen in der Stuttgarter SPD-Zentrale sitzt, hat sie Ränder unter den Augen. Aber sie wirkt frisch. „Das war eine Super-Veranstaltung gestern!“

Bei den Vogts in Wiesloch bei Heidelberg wäre es egal gewesen, ob die Eltern das Zeugnis direkt bekommen. Die Tochter hatte nichts zu fürchten, auch nicht, als sie die 9. Klasse wiederholen musste. „Zu Hause war immer klar: Du giltst was als Person. Auch wenn’s mal nicht so läuft, du hast Rückhalt.“

Ihre Mutter arbeitet als Verkäuferin in einer Bäckerei, später im Blumengeschäft der Tante. Der Vater ist Buchhalter beim Badenwerk, einem Energieversorger. Eigentlich halten sie es nicht für nötig, dass die Tochter aufs Gymnasium geht, aber wenn sie will, ist das auch in Ordnung. Wenn sie geladen aus der Schule kommt, lassen sie es zu, dass sie ihre Sachen hinschmeißt und rumbrüllt. Sie sind auch einverstanden, dass sie sich in Wiesloch mit anderen Nachrüstungsgegnern auf den Boden legt. Eigentlich ist Demonstrieren für die Eltern etwas, was sich nicht gehört. Aber gegen den Krieg sind sie auch, der Vater war Soldat, sein Bruder ist bei Stalingrad vermisst. Die Eltern kommen selbst damit klar, dass sie gegen Atomkraft protestiert, obwohl das Badenwerk Atomenergie verkauft. Sie sind trotzdem stolz auf die Tochter, die zehn Jahre ältere Schwester bestärkt sie sowieso.

Ute Vogt spricht so begeistert über ihre Familie, wie sie manche ihrer Lehrer verurteilt. Sie ist 41 Jahre alt, aber sie kann sich über die Schule aufregen, als komme sie gerade vom Unterricht. Über den Physiklehrer, der ihr mit einem Schnitt von 4,5 eine Fünf gab. Oder über den Religionslehrer: Als er einen Witz machte, lachte sie nicht. Der Lehrer fragte, warum sie das Gesicht verziehe. „Weil der Witz blöd war.“ Der Mann tobte.

Sie kneift die Augen zusammen, als drehe ihr jemand den Arm um. „Dieses Ohnmachtsgefühl. Wie oft wurde ich beschämt, was hab ich mir bieten lassen. Wenn ich mir überlege, was Kindern heute noch passiert.“ Es geht nicht nur um Politik jetzt, sie ist wütend. Über den alten Mathelehrer, der sie hundert Mal a[2]+ b[2]= c[2]schreiben ließ, sagt sie: „Ein verbitterter Mann mit einem Holzbein.“

Der Mathelehrer ist gestorben. Der Religionslehrer lebt noch. Er ist im Ruhestand. Er hat in seinem Leben hunderte Schülerinnen und Schüler im Unterricht gehabt. Aber wenn man ihn auf Ute Vogt anspricht, wird er immer noch zornig. „Es ist besser, wenn ich nicht über sie rede“, versucht er sich zu beherrschen. „Nur eins: Sie war eine widerspenstige, unerzogene, verzogene Schülerin. Erziehung muss im Elternhaus passieren!“ Er atmet durch, wird milder, vielleicht denkt er, dass das alles bald 30 Jahre her ist. „Sie war provozierend und dadurch das belebende Element im Unterricht. Wenn Sie sie sehen, sagen Sie ihr bitte schöne Grüße.“

Nach der Schule hat Ute Vogt Jura studiert. Die Erfolgserlebnisse hat sie sich nicht im Studium geholt, sondern in der Politik. Sie machte bei den Jusos mit und wurde in den Wieslocher Stadtrat gewählt. Mit 30 saß sie im Bundestag. In ihrem Beruf als Anwältin arbeitete sie nur ein Dreivierteljahr. Sie lebte in der Welt von Wahlkämpfen, Vorstandsrunden und Ausschusssitzungen. „Sie wäre geplatzt, wenn sie lange in den hinteren Reihen gesessen hätte“, sagt Antje Hill, die elf Jahre lang in Vogts Bundestagsbüro gearbeitet hat. „Das Thema Freizeit können Sie in der Liga vergessen.“

Sie hat Freunde verloren, weil sie keine Zeit für sie hatte. Früher wollte sie drei Kinder haben. Den Wunsch hat sie fallen lassen. Seit 2000 passen Personenschützer auf sie auf, weil sie belästigt wurde. Sie lässt keine Reporter zu sich nach Hause und hofft, dass die Wähler mit Fotos vom Motorradfahren zufrieden sind. Aber die Geschichte von der flotten Ute, die Ministerpräsidentin werden will, ist fünf Jahre alt. Bild fände jetzt bestimmt Folge zwei gut: Ute und die große Liebe. Zur Not auch: Utes kuscheliger Singlehaushalt. Günther Oettinger lässt sich regelmäßig mit Frau und Sohn fotografieren. Sie kämpft darum, dass ihr Privatleben unbeobachtet bleibt. Vielleicht will sie auch verhindern, dass klar wird, wie wenig sie außerhalb der Politik hat.

An diesem Nachmittag kommen Leute von der Werbeagentur, um mit ihr Fotos für Plakate und Broschüren auszuwählen. Sie freut sich, dass der Wahlkampf Fahrt aufnimmt. Als sie am Vorabend in Friedrichshafen angekommen ist und noch eine Stunde Zeit war, hat sie gesagt: „Was ich gar nicht mag, ist unproduktiv herumsitzen.“

Sie lebt auf im Wahlkampf. Bis vor kurzem war sie noch Staatssekretärin. Schröder wollte, dass sie Regierungserfahrung sammelt und steckte sie ins Innenministerium. Ute Vogt, die einzige SPD-Spitzenpolitikerin, die nicht jeden öffentlichen Satz dreimal durchrechnet, kam zu Otto Schily, dem Mann, der alles kontrollieren wollte. Im Haus hatte sie nichts zu sagen und draußen durfte sie nichts sagen.

„Sie war widerspenstig, unerzogen und verzogen“

Jetzt darf sie wieder aussprechen, was ihr einfällt. Das ist ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche. Als Franz Müntefering den SPD-Vorsitz hingeschmissen hat, weil Andrea Nahles als Generalsekretärin nominiert wurde, ging sie in die „Tagesthemen“. Sie habe für Nahles gestimmt und einfach nicht gewusst, dass Müntefering gehen würde. Viele fanden das naiv, zwei Landtagsabgeordnete ballerten los. Doch bald fiel der Partei ein, dass sie ohne Ute Vogt im Südwesten überhaupt keine Chance hat.

Sie kennt so etwas. Bundestagswahlkreis, Parteivorsitz, Spitzenkandidatur, immer ist sie gegen Männer um die 50 angetreten, und immer hat sie gewonnen. Sie hat auch gesehen, wie aus einem Gegner ein Unterstützer werden kann. 1992 winkt Gerhard Schröder auf dem SPD-Parteitag in Bonn die Aufweichung des Asylrechts durch, während Ute Vogt mit den Jusos dagegen kämpft. Zehn Jahre später holt er sie in den Nachwuchskader der Partei und macht sie zur stellvertretenden Parteichefin.

Vor Schröder war es Ulrich Maurer, der Ute Vogt protegierte. Im Südwesten führte er die SPD und sie die Jusos. Ein Team, so hat sie es empfunden. Ein Maler und sein Bild, so hat er es beschrieben. Aber während sie Karriere machte, verlor Maurer seine Macht. Im Sommer trat er aus Ärger über Schröder zur WASG über und wurde im Bundestag Lafontaines parlamentarischer Geschäftsführer. Wenn er über sie spricht, schlagen die Sätze wie kurze, dumpfe Schläge auf. „Ich habe sie sehr gefördert. Sie war unerschrocken und links. Heute zeichnet sie die Fähigkeit zur Flexibilität aus. Sie passt sich dem Mainstream an.“

Sie braucht einen Moment, bevor sie etwas über Maurer sagt. Sie waren befreundet und sie hat von ihm gelernt, wie man anderer Meinung sein und hinterher trotzdem was Trinken gehen kann. „Die Enttäuschung ist groß, weil ich gerade von ihm nicht solche Machosprüche erwartet hätte.“

Es gibt noch einen, der sie unterstützt hat. Der Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer. Er hat ihr geraten, Reden nicht abzulesen, und er hat sie ermuntert, gegen die anderen Männer anzutreten. Scheer ist ein Linker in der SPD. Er und Ute Vogt gehörten zu den wenigen Sozialdemokraten, die den Bundeswehreinsatz im Kosovo kritisch sahen. Er fand, dass die Rolle der braven Staatssekretärin nicht auf sie passte. Vermutlich ist Hermann Scheer ihr bester Lehrer gewesen. Weil er sie nicht als Schülerin behandelt hat. „Das Besondere an Ute Vogt“, sagt Scheer, „ist die Unbekümmertheit. Sie hat keine Angst.“

Ute Vogt spricht mit Verve über ihre Lehrer. Über die aus der Schule und die aus der Politik. Bei Scheer entspannen sich ihre Züge, bei Maurer wird der Blick scharf. Vielleicht hat sie es selber noch nicht bemerkt: Dass sie ihre Lehrer längst hinter sich gelassen hat.