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Archiv-Artikel

Lehren aus der Tiefe der Probebühne

Ganzwerdung mit mehr Wille als Vorstellung: In dem Interviewband „Luk Perceval. Theater und Ritual“ erfährt das Theater eine Verklärung, mit der man nicht mehr gerechnet hat

Eins kann man aus diesem Buch lernen: dass Luk PercevalsTheater besser ist als das, was er darüber zu sagen weiß

An irgendeiner Stelle hat es gehapert. Fragt sich nur, an welcher. Besser gesagt: Wer dafür zuständig war. Der gerade im Alexander Verlag Berlin erschienene Band „Luk Perceval. Theater und Ritual“ ist ein 256 Seiten starkes Mixtum compositum aus Essays und Interviews von und über Luk Perceval. Über den Regisseur, der seit seinem Stück „Schlachten“ von 1999 unter Genieverdacht steht und kürzlich als Hausregisseur an die Berliner Schaubühne berufen wurde, erfährt man darin allerlei. Vieles davon dreimal. Viermal. Zigmal. Als ginge es nicht darum, einen Regisseur mit einer bestimmten Idee vom Theater vorzustellen, sondern um die Verkündigung einer theatereschatologischen Doktrin.

Und weil so eine neue Lehre aus den Tiefen der Proberäume wohl theater- und geistesgeschichtlich eingeordnet werden muss, befand einer der hier versammelten Essayisten für nötig, dem geneigten Leser Aristoteles’ „Poetik“ in Erinnerung zu rufen. Auf dass er wisse, dass die vom Philosophen erwünschte Katharsis in Percevals Theater nun mal nach anderen Mustern erfolgt als jene, die der aristotelischen zugrunde lagen. Da ist zu lesen, dass „die theatralische Zersplitterung als Technik, parallel zur fragmentarischen ‚postmodernen‘ Welt, keine kompletten Geschichten mehr“ kenne „und keine vorgefertigten Vorstellungen von der Welt“. Wahrlich eine Erkenntnis, die uns Armleuchter, wenigstens für einen Augenblick, von unserer abgrundtiefen Dummheit erlöst.

Aber zum Glück dreht sich hier alles um einen Theatermacher, der seine Zuschauer nicht für dumm hält. Der sich gegen jede Form von Illusionismus wehrt, welcher die Fantasie des Theaterbesuchers einschränken könnte. Der keinen Welterklärungsversuch will, keinen Kommentar zur Lage der Nation, sondern nur eine Projektionsfläche. „Mein Theater findet in den Köpfen der Zuschauer statt“, sagt er.

Luk Perceval meint es ganz ernst mit der Theaterkunst. Theater – das ist für ihn eine existenzielle Frage. Die Frage nach Sinngebung – im Bewusstsein dessen, dass es keinen Sinn gibt. Der Gegenentwurf zum Zynismus und zur Einsamkeit, in der das Individuum in der gegenwärtigen Gesellschaft versunken ist. Ein Ort, an dem „ein Ritual der Ganzwerdung“ stattfindet, in dem sich eine außerhalb der Schauspielhäuser längst verloren gegangene „rituelle Zusammengehörigkeit“ wieder errichten lässt.

Ohne Zweifel – das überrascht an diesem Buch – treibt den Regisseur Luk Perceval ein holistisches Verlangen. Weshalb er zum Ursprung des Theaters zurück will: in den Tempel, wo der Zuschauer, seine bürgerliche Vergangenheit und soziale Stellung vergessend, eins wurde mit der Geisterschar der Choreuten und „den Sinn dieses Lebens erfahren“ konnte. Den geweihten Raum darf freilich kein Schauspieler betreten, der einfach darstellt, sondern nur einer, der wie im Leben agiert, indem er „ist“. Denn nur dann kann sich der Zuschauer mit den Figuren völlig identifizieren, mit ihnen mitfühlen, „einen Moment der Harmonie, der Versöhnung, der universellen Liebe“ erleben.

Schade bloß, dass, wenn wir heutzutage den Schleier der Maja lüften, sich kein Abgrund mehr auftut. Uns, „hier und jetzt“, bleibt höchstens die gähnende Einsicht übrig, dass wir keine Antworten mehr haben. Ach! Aber was soll’s? Auf die kollektive Erfahrung kommt es an. Nach der Lektüre dieses Buches wäre durchaus angesagt, vor der nächsten Vorstellung Nietzsches „Die Geburt der Tragödie“ wieder zu lesen. Im Chor bitte! Denn Luk Percevals jüngste Theatertheorie scheint sich vor allem aus Nietzsche-Zitaten gespeist zu haben. Obwohl der Philosoph, im Gegensatz zu Aristoteles und den polnischen Theatergurus Tadeusz Kantor und Jerzy Grotowski, auf welche sich der belgische Regisseur explizit beruft, in dieser wort- und assoziationsreichen Textsammlung unerwähnt bleibt.

Pardon: Nicht nur er! Wer weiß, wer noch von all den Dichtern, Denkern und Mystikern, die irgendwann einmal über die Überwindung des westlichen Dualismus gegrübelt haben, der jüngsten Theaterlehre aus Antwerpen Pate gestanden hat. „Sicher ist, dass nichts sicher ist“, sagt Perceval. Mit noch einem Zitat. Eins aber kann man doch mit Gewissheit über den Perceval gewidmeten Band sagen: Sein Theater ist auf jeden Fall besser als das, was er darüber sagt.

AURELIANA SORRENTO

„Luk Perceval. Theater und Ritual“. Hrsg. von Thomas Irmer. Alexander Verlag, Berlin 2005, 256 S., 29,90 €