Kein König von Deutschland

LEIPZIGER FESTSPIELE Mit Dostojewski und Rio Reiser auf dem Programm präsentiert Sebastian Hartmann sein viermonatiges Bühnenwerk. Ein Überblick zum Auftakt

VON THORSTEN IBS

Zum Abschied zieht Noch-Intendant Sebastian Hartmann ein letztes Mal alle Register und veranstaltet gewohnt selbstbewusst seine Leipziger Festspiele. Bis Juni verwandelt er das Centraltheater in eine Spielstätte, die sowohl programmatisch als auch architektonisch hervorsticht.

Im Februar hatte Hartmann das Haus kurzerhand schließen lassen, um es festspielbereit zu machen. Der bestuhlte Zuschauerraum wurde zur 200 Besucher fassenden Arena verwandelt: Eine zugleich intime, aber auch maximal öffentliche Situation für Publikum wie Schauspieler. Die Bühne ist zur Lounge mit Bar umfunktioniert. In der neuen Manege finden seit Anfang März im Wochentakt Premieren statt, die nach drei bis vier Vorstellungen wieder abgespielt sind. Auch die Probenzeiten sind diesem Rhythmus angepasst, zumeist hat ein Team weniger als drei Wochen Zeit für einen Abend.

Zur Eröffnung inszenierte der Intendant selbst. Hartmanns roter Faden durch die Spiele ist eine russische Trilogie namens „Entscheide dich für die Liebe“ – mit Dostojewski, Sorokin und Tarkowski. Den Auftakt machte seine Bearbeitung von Dostojewskis Roman „Der Traum des lächerlichen Menschen“ als Solonummer mit Band. Den lächerlichen Mann gab Nachwuchsschauspieler Benjamin Lillie. Unterstützt wird er dabei von der Elektro-Posaunencombo Nackt, die von der obersten Reihe ihre Töne in die Arena wirft.

Emphase und Vielseitigkeit

Lillie bleibt der Monolog und die Aufgabe, alle im Rund gleichermaßen einzubeziehen. Anfangs ruhig und im edlen Smoking, entwickelt er eine unglaubliche Emphase und Vielseitigkeit, die das Publikum in den Bann zieht. Die Geschichte eines lebensmüden Mannes, der sich erst ein utopisches Paradies erträumt, dieses aber durch seine Anwesenheit zerstört, überrascht wohl niemanden. Dennoch ist der Abend durch die ungeheure Energie und Waghalsigkeit in Lillies Spiel an keinem Punkt langweilig. Wenn er nach anderthalb Stunden im zerrissenen Hemd in den Posaunen untergeht, ist der Applaus für Schauspieler, Musiker und Regisseur gleichermaßen verdient.

Im zweiten Festspiel „Top Müller Schlacht“ kreuzt Thomas Thieme Heiner Müllers „Die Schlacht“ mit Spielszenen aus Heidi Klums Supermodel-Show und DDR-folkloristischen Arbeiterliedern. Ein Laienchor liefert das entsprechende Stimmvolumen. Am Anfang stehen harmlos alberne Klum-Szenen, wenn etwa Barbara Trommer als Heidi einem alten Chormitglied bescheinigt: „Amelie, du bist ja erst 16.“ Doch die Finalsituation wird blutiger Ernst, wenn sie nahtlos in Müllers „Nacht der langen Messer“ übergeht, in der ein Bruder den anderen bittet, ihn zu töten, weil er im Gestapo-Keller die Genossen verraten habe.

Manolo Bertling und Ingolf Müller-Becker bilden zusammen mit Trommer das spielerische Trio infernale, das die Fäden zusammenhält und immer wieder verwebt, wenn der Abend in Schlagseite zu geraten droht. Denn die Müller-Szenen kommen oft eher träge formal daher. Die Chormitglieder stellen Positionen im Rund, während zumeist die Schauspieler die Texte sprechen.

Den dritten Festspielpaukenschlag lieferte am Mittwoch Chefdramaturg Uwe Bautz mit „Rio Reiser: Der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird“. Den Reiser spielt Peter Schneider, hie und da unterstützt von Barbara Trommer, die einspringt, wenn er sich verausgabt hat. Musikalisch getragen von Schlagzeug, Bass und Synthesizer wirbelt Schneider durch den Abend. Dabei ist er angemessen verstockt und sympathisch gehemmt, dass er nur selten das Publikum mitreißt. Bautz und Schneider wollen keinen Feel-Good-Musicalabend, sondern laden ordentlich Theorie und Literatur auf den armen Reiser. Trotz oder wegen der gelungen rau-rauchigen Gesangsnummern zerbricht dieser folgerichtig auf einer schon bald verwüsteten Bühne.

Musikalisch gibt es viele von Reisers Songs und die Hits von Ton Steine Scherben zu hören. Allerdings fehlt Reisers Evergreen „König von Deutschland“, was inhaltlich nur konsequent ist.

Das Versprechen hat Hartmann bisher eingelöst. Zur Buchmesse wird die Arena zur Lesungsstätte umfunktioniert, außerdem haben sich noch namhafte Akteure wie Klaus Maria Brandauer und Schorsch Kamerun angekündigt. Clemens Meyer plant gar einen Boxkampf und im Juni geht das Spektakel mit einem dionysischen Fest von Hermann Nitsch zu Ende.