: Große Lücken in der Beweisführung
URTEIL Der BGH-Strafsenat beanstandete das Dessauer Urteil in vier Punkten. Ein Freispruch für den Polizisten S. ist dennoch möglich
AUS KARLSRUHE CHRISTIAN RATH
Der Prozess um den Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh, der in einer Dessauer Polizeizelle vor fünf Jahren verbrannt ist, muss neu aufgerollt werden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hob gestern den Freispruch für den diensthabenden Polizisten Andreas S. auf und ordnete eine neue Verhandlung an. „Der Ausgang ist aber völlig offen“, sagte die Vorsitzende Richterin Ingeborg Tepperwien. Der Prozessbeobachter Yonas Endrias von der Internationalen Liga für Menschenrechte freute sich dennoch: „Endlich spricht jemand die logischen Fehler in den Ermittlungen an, ich hätte die Richterin umarmen können.“
Frühmorgens am 7. Januar 2005 hatte der damals 23-jährige Oury Jalloh in stark betrunkenem Zustand drei Frauen der Dessauer Stadtreinigung belästigt. Die herbeigerufenen Polizisten nahmen Jalloh mit zur Wache, steckten ihn in eine Ausnüchterungszelle und fixierten ihn mit Händen und Füßen an der Matratze. Drei Stunden später war Jalloh tot, verbrannt.
Das Landgericht Dessau hatte nach fast zweijährigem Prozess folgendes Geschehen angenommen: Jalloh habe mit einem Feuerzeug, das bei der Durchsuchung übersehen wurde oder das er später einem Polizisten abgenommen hatte, die unbrennbare Hülle seiner Matratze erhitzt und dann aufgerissen, um den brennbaren Schaumstoffkern der Matratze in Brand zu setzen. Bei dem Brand bildeten sich 800 Grad heiße Rauchgase, die bei Jalloh zu einem Inhalationshitzeschock führten. Binnen zwei Minuten sei der Mann aus Sierra Leone tot gewesen.
Der Polizist S., so damals das Landgericht, habe weder pflichtwidrig gehandelt noch hätte er Jalloh retten können. S. habe zwar den Alarm des Rauchmelders weggedrückt, weil es schon öfters Fehlalarm gegeben hatte. Außerdem hätte er noch zwei Telefonate geführt, bevor er zur Zelle ging. Die Dessauer Richter nahmen aber an, dass Jalloh auch bei sofortigem Eingreifen nicht mehr zu retten gewesen wäre.
Der BGH-Strafsenat beanstandete nun das Dessauer Urteil an mehreren Punkten. So habe Polizist S. eindeutig pflichtwidrig gehandelt, als er den Alarm des Rauchmelders zunächst ignorierte. „Er hätte sofort nachsehen müssen“, betonte Richterin Tepperwien, „schließlich war der Mensch in der Zelle gefesselt und einer Brandgefahr hilflos ausgeliefert.“
Ein Freispruch für S. bleibt dennoch möglich – falls Jalloh auch bei sofortigem Eingreifen nicht hätte gerettet werden können, weil er bereits tot war. Dann hätte das Fehlverhalten des Polizisten den Tod Jallohs nicht verursacht. Doch auch gegen diese Annahme des Landgerichts machte Tepperwien Einwände geltend. „Es ist kaum zu glauben, dass Jalloh in der ganzen Zeit nicht geschrien hat, nicht einmal im Todeskampf“, kritisierte die Richterin und verwies auf Sachverständige, die dies ebenfalls für unwahrscheinlich hielten. Hat Jalloh aber geschrien, bevor der Rauchmelder ansprang, hätte S. das hören können und eine rechtzeitige Rettung wäre möglich gewesen.
Außerdem soll in der neuen Hauptverhandlung untersucht werden, wie schnell ein Rauchmelder reagiert. Die Dessauer Richter gingen davon aus, dass der Alarm erst nach Ausbrechen des Feuers ausgelöst wurde. Möglicherweise, so Tepperwien, reagierte das Gerät jedoch schon, als Jalloh die Matratze ankokelte, also deutlich früher. Auch dann hätte Polizist S. bei sofortiger Reaktion den inhaftierten Afrikaner noch retten können.
Gleich zu Beginn der Verkündung machte Tepperwien deutlich, dass es ihr schwerfalle, das vom Landgericht geschilderte Geschehen überhaupt nachzuvollziehen. Zwar sei es durch Versuche nachgewiesen worden, dass der gefesselte Jalloh ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche hätte holen können. Auch das stufenweise Inbrandsetzen der Matratze sei im Experiment ausprobiert worden. „Aber konnte Jalloh die Matratze auch entzünden, obwohl er mit der Hand an der Zellenwand fixiert war?“, fragte Tepperwien. Hier gebe es noch „wesentliche Lücken in der Beweisführung“.
Aus all diesen Gründen hob der BGH nun den Freispruch für Andreas S. auf und ordnete eine neue Verhandlung an. Das Verfahren soll diesmal aber am Landgericht Magdeburg stattfinden und nicht mehr in Dessau, um mehr Distanz zu ermöglichen.
Wie der neue Prozess ausgeht, ist nach Tepperwien völlig offen. „Es kann sein, dass sich die Lücken in der bisherigen Beweisführung schließen lassen, oder es stellt sich heraus, dass sich das Geschehen doch anders zugetragen haben muss“, so die BGH-Richterin. Möglicherweise lasse sich der Sachverhalt auch gar nicht mehr ausreichend aufklären. „Dann gilt der Grundsatz ‚Im Zweifel für den Angeklagten‘ – auch wenn der Angeklagte ein Polizist ist.“ Sie versuchte damit offensichtlich die Erwartung bei den Freunden Oury Jallohs zu dämpfen, dass ein neuer Prozess automatisch zu einer Verurteilung von Andreas S. führen muss.
Az.: 4 StR 413/09